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Vor den Wahlen in der TürkeiDie Opposition ist optimistisch

Durch den Rückzug eines Zählkandidaten steigen die Chancen auf einen Wahlsieg der Opposition. Vor allem junge Leute wollen den Wechsel.

Viele junge Menschen hoffen auf einen Wahlsieg des CHP-Kandidaten Foto: Murad Sezer/reuters

Istanbul taz | Wenige Tage vor den bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei sind die Chancen des oppositionellen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu am Donnerstagnachmittag noch einmal gestiegen, als Muharrem Ince, einer der beiden Zählkandidaten, seinen Rückzug erklärte. Ince hätte zwar sowieso nur mit rund 3 Prozent rechnen können, immerhin aber wären das möglicherweise die Punkte gewesen, die Kılıçdaroğlu für einen Sieg im ersten Wahlgang gefehlt hätten.

Für den Oppositionskandidaten mobilisieren unterdessen junge Leute im ganzen Land, und das nicht nur mit traditionellen Mitteln. Auf einem Video etwa, das über Tik-Tok in die Welt gesendet wird, ist eine junge Frau zusehen, die Werbung für Schminkprodukte macht. Sie hat tausende von FollowerInnen, mutmaßlich ebenfalls junge Frauen. Mit Politik hatte sie nie etwas zu tun.

Doch an diesem Tag, zwei Tage vor der alles entscheidenden Präsidentschafts – und Parlamentswahl in der Türkei, erläutert sie ihren Zuschauerinnen, wie sie sich am Wahltag schminken wird. Sie legt deutliches Rot auf ihre Wangen, die Farbe der Opposition, und im Augenwinkel malt sie das Parteiemblem der oppositionellen CHP, sechs Pfeile, die die traditionellen Ziele der CHP symbolisieren sollen. Dann fügt sie noch einen Pfeil dazu: „Für die Freiheit der Frauen“.

Viele, vor allem junge Frauen, haben zu Recht Angst um ihr Leben und ihre Freiheit, sollte Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch einmal gewinnen. Ihr Video auf Tik-Tok ist kostenlose Werbung für die Opposition und zeigt, wie sehr ein großer Teil der Jugend sich eine Veränderung wünscht.

Oppositionswahlkampf lief besser als erhofft

Unter den Erst – und Jungwählern im Land, soviel ist selbst bei der unsicheren Datenlage der Demoskopen völlig klar, hat Erdoğan nur wenig UnterstützerInnen. Mehrmals im Wahlkampf hat der Präsidentschaftskandidat der Opposition, Kemal Kılıçdaroğlu, sich auch selbst über soziale Medien an die jungen Leute gewandt, die das erste Mal wählen gehen können und ihnen ein „freies Land“ versprochen, wenn sie mit für einen Regierungswechsel sorgen werden.

„Demokrat Dede“ will der 74 jährige Kılıçdaroğlu scherzhaft genannt werden, Opa der Demokratie, und viele Leute nehmen ihm diesen selbstgewählten Nick-Name auch ab. Anders als bei den Wahlkampfauftritten Erdoğans sind bei der Opposition sehr viele junge Leute zu sehen. Da der Altersdurchschnitt in der Türkei immer noch bei rund 30 Jahren liegt, ist dies ein wichtiger Indikator für den Wahlausgang am kommenden Sonntag.

Insgesamt lief der gesamte Wahlkampf für die Opposition fast besser als erhofft. Selbst in Städten, in denen Erdoğans AKP seit Jahren dominiert, waren die Veranstaltungen Kılıçdaroğlus überlaufen. Und während die Leute zu Kılıçdaroğlu freiwillig und oft unter großen Mühen kamen, wendete die Regierung erhebliche Mittel und politischen Druck auf ihre bisherigen AnhängerInnen an, um die Stadien und Plätze für Erdoğan voll zu bekommen.

Das war auch bei den beiden größten Veranstaltungen der Kandidaten am letzten Wochenende in Istanbul zu sehen. Hunderttausende Menschen kamen am Samstag zur Wahlveranstaltung der Opposition, obwohl die Regierung zeitweilig die Metro zum Veranstaltungsort stoppen ließ und alles tat, um eine Teilnahme zu erschweren. Am Sonntag hingegen brauchte sie für ihre eigene Veranstaltung 10.000 städtische Busse, die quasi beschlagnahmt wurden, um den alten Flughafen für Erdogan zu füllen.

Die Opposition stellt mehr Wahlbeobachter denn je

Trotzdem ist der Wahlausgang nach wie vor ungewiss und das liegt nicht nur an der wenig verlässlichen Demoskopie, sondern auch daran, dass die Regierung die Wahlen manipulieren könnte, wie viele befürchten. Deshalb hat die Opposition ein nie dagewesenes Großaufgebot an WahlbeobachterInnen mobilisiert, die möglichst an jeder Urne, an der abgestimmt wird, präsent sein sollen.

Parteienvertreter und unabhängige Beobachter kontrollieren gemeinsam mit den staatlichen Wahlbeamten den Urnengang, zählen anschließend die abgegebenen Stimmen, und jedes Urnenergebnis wird von einem Wahlbeamten und zwei Parteienvertretern unterschrieben. Anschließend gibt es für alle Beobachter einen Kontrollzettel, der sofort fotografiert und zu den einzelnen Parteizentralen geschickt wird, die dann neben den offiziellen Wahlbehörden die Chance haben, die Ergebnisse mitzuzählen.

Trotzdem wird es Raum für Manipulationen geben, vor allem in den kurdischen Gebieten, wo manche Urnen aus angeblichen Sicherheitsgründen in Kasernen aufgestellt werden, im Erdbebengebiet, wo die Wählerlisten nicht mehr gesichert sind und in einigen Gebieten in Zentralanatolien, wo die Opposition so schwach ist, dass sie nicht überall Beobachter stellen kann.

Dennoch ist man bei der CHP aber auch bei der kurdischen HDP optimistisch, dass das Volumen an Wählerstimmen, das manipuliert werden könnte, zu klein ist, um wahlentscheidend zu sein. „Alles hängt davon ab“, sagte Mustafa Yeneroğlu, ein führendes Mitglied der oppositionellen DEVA Partei dem Standard, „dass wir bei der Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang gewinnen“. Sollte das nicht der Fall sein, werden die kommenden zwei Wochen bis zur möglichen Stichwahl am 28. Mai „sehr schwierig“.

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