Vor den Wahlen in Großbritannien: Gezerre um jede Stimme
Johnsons Konservative stehen nach den Prognosen vor dem Wahlsieg. Sie zittern aber um die absolute Mehrheit im Parlament.
Zwar liegen Johnsons Konservative im Schnitt der Umfragen unverändert mit rund 43 Prozent weit vor Labour (34 Prozent), doch eine am Dienstag veröffentliche Analyse aller Wahlkreise auf der Basis einer sogenannten MRP-Analyse gibt den Konservativen eine absolute Mehrheit von nur 28 Sitzen. Noch vor zwei Wochen hatte dieselbe Methode eine Mehrheit von 68 Sitzen ergeben. Da eine MRP-Analyse vor der Wahl 2017 das Patt vorhergesagt hatte, gilt diese Methode als besonders wichtig im Umfragedschungel. Und: In mehr als achtzig Wahlkreisen liegt der Vorsprung des Siegers unter 5 Prozent und ist daher nicht gesichert.
Nur wenige Prozentpunkte liegen zwischen einem Wahlsieg der Konservativen und einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse. Kein Szenario gibt Labour zusammen mit Liberalen und schottischen Nationalisten eine Mehrheit. Bei einem Patt wären wohl die Nordiren das Zünglein an der Waage – wie schon 2017.
Vor diesem Hintergrund haben zuletzt beide Lager ihre Bemühungen um „taktisches Wahlverhalten“ intensiviert, mit dem Ziel, dass zum Beispiel alle Wähler der chancenlosen Brexit Party dort, wo die Konservativen nur knapp hinter Labour liegen, auf Boris Johnson umschwenken. Oder, dass sich EU-freundliche Wähler von Labour und Liberaldemokraten in konservativen Wahlkreisen um einen der zwei zur Auswahl stehenden Kandidaten scharen.
Labour sagt, man werbe um jede Stimme
Letzteres ist allerdings nicht so einfach. Labour sagt, man werbe um jede Stimme. Und der auflagenstarke Evening Standard erschien am Dienstag mit einer Werbung für die Liberaldemokraten mit dem Slogan „Wählt Liberaldemokraten, um den Brexit zu stoppen“. Angefügt war eine Liste von 24 Wahlkreisen im Großraum London, in denen die Tories angeblich durchrutschten, wenn Labour-Wähler sich nicht hinter die Liberaldemokraten scharen.
Zunehmend wichtig ist auch das Wahlverhalten ethnisch-religiöser Minderheiten. Die Enthüllungen über Antisemitismus bei Labour haben zu einem Bruch zwischen Labour und den britischen Juden geführt. Labour wirbt seinerseits um Großbritanniens Muslime und verweist auf eine Reihe von als islamophob eingestuften Äußerungen konservativer Politiker sowie auf Rassismus im Tory-Establishment. Die Konservativen suchen als Reaktion darauf den Schulterschluss mit nichtmuslimischen Einwanderergemeinschaften.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“