Vor dem Spiel Frankreich-Italien: Einer wird weinen

Die Weltfußballgroßmächte Nr. 1. und Nr. 2 kämpfen gegen den Abstieg: Kann sich Vizeweltmeister Frankreich gegen Italien neu erfinden?

Ex-Nationalspieler Domenech ist seit 2004 Nationaltrainer Frankreichs. Größter Trainer-Erfolg: Vizeweltmeister 2006. Bild: reuters

Kann die französische Fußballnationalmannschaft sich im dritten und entscheidenden Vorrundenspiel gegen Italien neu erfinden? Grundsätzlich: Warum nicht? Bei den großen Turnieren verdichtet sich die Zeit. So schnell, wie plötzlich alles schlecht ist, kann auch alles gut werden. Große Spieler können binnen Minuten erledigte Fälle sein. Man denke an den Weltklassespieler Helmut Haller, der 1970 nach 45 Turnierminuten ausgetauscht wurde - und nie wieder für Deutschland spielte. Oder an die WM 1974, als die EM-Helden Netzer, Wimmer, Heynckes in der Krise über Bord gingen - und die vorherigen No-Name-Spieler Bonhof und Hölzenbein Fußballgeschichte wurden.

Die Lage: Die letzten Anzeichen aus dem französischen Lager könnten darauf hindeuten, dass Trainer Domenech seinen Jungstar Benzema neben Thierry Henry stürmen lässt - und dass Malouda und der viel kritisierte Sagnol draußen bleiben. Italiens Chefcoach Roberto Donadoni baut seine Offensive um und setzt auf di Natale und Cassano als Flügel und Vorbereiter für Luca Toni. Der Bundesligatorschützenkönig ist immer noch ohne EM-Tor. Doch selbst ein 10:0 könnte den Sieger zum Verlierer machen: Gewinnt Rumänien gegen Gruppensieger Niederlande, sind beide draußen.

Frankreich (voraussichtlich): Coupet - Diarra, Gallas, Thuram, Evra - Toulalan, Makelele - Govou, Ribery - Benzema, Henry

Italien (voraussichtlich): Buffon - Zambrotta, Panucci, Chiellini, Grosso - Gattuso, Pirlo, de Rossi - Cassano, di Natale - Toni - Anstoß: Dienstag, 20.45 Uhr, ZDF

Die heutige Neuauflage des letzten WM-Finales Italien - Frankreich (20.45 Uhr) entscheidet über das vorläufige Ende (mindestens) eines europäischen Spitzenverbandsteams. Damit ist das Spiel mit maximaler Bedeutung aufgeladen, die Erwartung auf beiden Seiten, dass etwas Außergewöhnliches passieren wird, immens.

Aber was genau? Kaum einer erwartet, dass der französische Trainer Raymond Domenech, 56, heute in seinem 54. Spiel als Cheftrainer tatsächlich alles anders macht. "Er muss die Abwehr erneuern und mit Vieira im Mittelfeld anfangen", sagt Daniel Cohn-Bendit, Chef der europäischen Grünen im EU-Parlament - und seit 1958 Anhänger der Equipe Tricolore. Aber: "Domenech ist so strukturkonservativ, dass man ihm das nicht zutraut."

Häufig hört man, Domenech solle seine altbewährten Abwehrspieler rausschmeißen, weil sie zu alt und zu langsam seien. Cohn-Bendit sagt, es sei "kein Problem des Alters, sondern ein Problem der Fitness". Der niederländische Verteidiger Giovanni Van Bronckhorst sei 33, aber fit.

Frankreichs Abwehr hat ein Jahr hinter sich, in dem zum Beispiel der Rechtsverteidiger Willy Sagnol (FC Bayern), 31, kaum gespielt hat. Und wenn, dann nicht gut. Innenverteidiger Lilian Thuram, 36, ist Weltmeister, Europameister, hat 142 Länderspiele. Wirkt über den Platz hinaus als gesellschaftspolitisch engagierter Mensch. Ein Großer. Aber er war zuletzt Ersatzspieler in Barcelona, und das sieht man. Frankreich habe "eine Verteidigung, die sich nicht mehr verteidigen lässt", schrieb der Staatsfußballanzeiger LEquipe nach dem 1:4 gegen die Niederlande, der höchsten Niederlage seit 1982. In Chatel-St.-Denis, dem Quartier der Franzosen, wurden seither Videos analysiert, was das Zeug hält.

Aktionismus? Nicht nur im Fußball ist es schwierig, im Erfolg jene Erneuerung zu vollziehen, die ihn bewahrt. Es läuft ja, so scheint es. Die Erneuerung, glaubt Daniel Cohn-Bendit, hätte weniger eine personelle als eine konzeptuelle sein müssen. "Eine Fußballmannschaft ist Architektur", sagt er, "und eine Mannschaft ohne Zidane ist ein Haus, dem der tragende Pfeiler fehlt." Nach dieser Logik will Frankreich immer noch so spielen, als sei der Spielmacher und Jahrzehntspieler Zinedine Zidane dabei. Weil er das nicht ist und zudem Kapitän Vieira bisher ausfiel, funktioniert das Gerippe des Teams nicht - weil es dasselbe macht wie in den alten Zeiten.

Claude Makelele etwa erobert auch in fortgeschrittenem Alter von 35 viele Bälle. Und weiß dann nicht, was er damit anfangen soll. Früher spielte er sie sofort zu Zidane. Gut: Es gibt Franck Ribery (FC Bayern), der vieles kann und probiert, aber nicht erkennbar Nukleus eines Post-Zidane-Plans ist.

Das Klagen über Frankreichs Team findet selbstverständlich auf gehobenem Niveau statt, das Team hat ja gegen die Niederlande zeitweise konkurrenzfähigen Fußball gespielt, und hätte Thierry Henry seine Chance …

Er hat aber nicht, und darüber hinaus hat man den Eindruck, als seien die Fähigkeiten der Spieler und deren Verknüpfung durch ein Konzept bei den derzeitigen Turnierfavoriten Niederlande, Portugal, Spanien einfach besser in Einklang. Bondscoach Marco Van Basten hat sich bekanntlich korrigiert, die heilige holländische Spielphilosophie überarbeitet und das permanente Halten der Defensivpositionen über das Halten der Flügel gestellt.

Van Basten hatte im Spiel gegen Frankreich zudem die Klugheit, den Besitzstand nicht durch Defensive zu sichern, sondern durch Einwechslung seiner zwei Flügelstürmer. Es ist ironisch, dass Frankreichs Erfolg bei der WM 2006 auch durch eine Korrektur zustande kam. Aber da waren die reifen Spieler körperlich stark. Im Zeitalter der notwendigen, maximalen Fitness des kompletten Teams sind fünf fehlende Prozent bei drei Spielern schon zu viel.

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