Vor dem Gezi-Jahrestag in Istanbul: Mobilisierung mit Hemmungen
Türkische Aktivisten wollen am Wochenende auf die Straße gehen. Doch einen Demoaufruf zum Gezi-Jahrestag gibt es noch nicht.
ISTANBUL taz | „Die Gezi-Bewegung lebt. Wir sind Millionen und wir werden trotz aller Repression nicht schweigen.“ Kurz vor dem Jahrestag des Gezi-Protestes hat die Taksim-Solidarität, ein Zusammenschluss von mehr als 60 Bürgerinitiativen, am Dienstag dazu aufgerufen, am 31. Mai auf die Straße zu gehen, um für das Recht auf Leben in einer selbstbestimmten Umwelt zu kämpfen und nicht vor der Repression der Regierung von Recep Tayyip Erdogan zu kapitulieren.
Um sich selbst und allen Anhängern Mut zu machen, ließen Vertreter der Taksim-Solidarität während einer Versammlung die Ereignisse des letzten Jahres noch einmal Revue passieren. „Wir sind stolz auf diesen demokratischen Aufbruch“, sagte Mücella Yapici, eine der Sprecherinnen der Bürgerinitiativen, die gleichzeitig Vorsitzende der Istanbuler Architektenkammer ist. „Doch der Kampf ist noch lange nicht zu Ende.“
Die Zukunft des Geziparks ist nach wie vor ungeklärt. Auch das übergeordnete Ziel, als Bürger bei der Gestaltung der Stadt beteiligt zu werden, um in einer menschenwürdigen, ökologisch gesunden Umwelt leben zu können, ist noch lange nicht erreicht.
„Wir sind friedlich, wir kämpfen gewaltfrei, doch unsere verfassungsmäßigen Rechte werden permanent beschnitten. Es gibt keine Versammlungsfreiheit mehr. Selbst bei Begräbnissen werden wir angegriffen. Wir konnten uns noch nicht einmal friedlich zu einem Trauermarsch für die Opfer der Bergwerkskatastrophe in Soma versammeln, ohne von der Polizei attackiert zu werden“, fasste Mücella Yapici die aktuelle Situation zusammen.
Teilnehmer kaum zu schützen
„Statt Dialog mit den Bürgern herrscht die nackte Polizeigewalt“, bekräftigte Can Atalay, ein Vertreter der Anwaltskammer. „Der Polizeiterror ist heute schlimmer als vor einem Jahr.“ Atalay beklagte, dass keiner der Todesfälle im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten bislang aufgeklärt ist. Er weist darauf hin, dass es bis heute keine vollständigen Zahlen über Festnahmen und Verhaftungen gebe.
Während etliche Verfahren gegen Demonstranten bereits begonnen haben, steht das Hauptverfahren gegen die Vertreter der Taksim-Solidarität noch aus. Am 12. Juni wird gegen 31 Mitglieder der Bürgerinitiativen ein großer Prozess in Istanbul beginnen. Darunter ist auch Mücella Yapici, der zusammen mit zwei anderen Angeklagten die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird.
Doch durch die Repression will sich die Gezi-Bewegung nicht zum Schweigen bringen lassen. „Wir werden am Samstag, am 31. Mai, dem Jahrestag der Gezi-Proteste, auf dem Platz und auf den Straßen sein“, hieß es am Dienstag. Die Taksim-Solidarität will aber nicht zu einer offiziellen Großdemonstration aufrufen, denn sie weiß, dass sie die Teilnehmer nicht schützen kann.
Erst letzte Woche wurden zwei junge Männer im Istanbuler Viertel Okmeydan vermutlich von der Polizei erschossen. Niemand will für einen solchen Fall Verantwortung übernehmen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!