Vor 20 Jahren erschoss sich Kurt Cobain: Der Sound der Raucherecke
Kurt Cobain war der erste Tote der MTV-Ära. Seine Musik spiegelte die Unsicherheit frühen 90er, sie legte bei einer ganzen Generation den Schalter um.
Vier Akkorde in f-Moll – F5, Bb5, Ab5 und Db5 – und zack, schon ist die Erinnerung da. Denn mit diesen Gitarrenriffs beginnt der Song „Smells Like Teen Spirit“. Die Band, die ihn spielt: Nirvana. Wenn Leute wie ich, Ende der 70er Jahre geboren, diesen Sound hören, kommt alles zurück: das Lebensgefühl der Neunziger mit postideologischer Ratlosigkeit, Flanellhemden, Discman, George Bush senior, Kurt Cobain und Marion aus der Parallelklasse, die Schluss gemacht hat.
Vier Akkorde – sie reichen einer ganzen Generation, um den Schalter umzulegen und sich wieder in der Raucherecke auf dem Schulhof zu wähnen. Ein Dutzend Jungs finden sich dort zur großen Pause ein, fast alle picklig und im Stimmbruch, fast alle mittelmäßig in allen Fächern. Die meisten mit langen Haaren, die meisten dem Spirit von Nirvana, der Haltung von Cobain verfallen.
Gesehen haben wir die Band zuerst in diesem MTV-Video: da waren drei rockende Musiker in einer runtergerockten Turnhalle, duster, braunstichig, unscharf. Es soll der meistgespielte Clip überhaupt auf dem Musiksender sein. Und im Zentrum Cobain, lange blondierte, zerzauste Haare, leerer, herausfordernder Blick. Er stand da und sang in einem gammligen, stickigen, engen Raum. Drumherum Cheerleader wie ein ironischer Wink, pogende Menschen, übersteuerte Pegel und künstlicher Rauch.
Und dann das Ende.
„Cobain ist tot.“ Es war am 8. April 1994, als diese Meldung die Runde machte. Ob es stimmte, war zuerst nicht klar. Ein paar Wochen zuvor war Kurt Cobain in Rom bereits mit einer Überdosis Tranquilizer – nicht Heroin – kollabiert. Da stellte sich sein Tod noch als Gerücht heraus.
Wie fast jeden Nachmittag saßen wir an jenem Apriltag im Jugendzentrum „Alte Post“ in Oelde, dieser Stadt im Münsterland, in der wir unsere Jugend durchlitten. Mit jedem neuen Freund, der zu uns stieß, nahm die Nachricht mehr Kontur an, bis klar war, Cobain, der mit seiner Band jenen Song und drei epochale Alben aufgenommen hatte, hatte sich – drei Tage zuvor, wie spätere Obduktionsberichte ergaben – mit einer Schrotflinte erschossen.
Gefährliche Musik
Zwanzig Jahre ist das jetzt her und mit Cobain ist mehr gegangen als nur ein begabter Songwriter. „Mit Kurt Cobain und Nirvana war Rockmusik zum letzten Mal wirklich shocking“, sagt der britische Pop-Autor Jon Savage. Er interviewte Cobain 1993 für den Observer, er war einer der wenigen Journalisten, mit denen der Sänger zu dieser Zeit überhaupt sprach. „Nach Nirvana gab es für mich nichts Vergleichbares mehr. Sie waren die letzte gefährliche Rockband“, sagt er.
Savage ist einer der Chronisten des britischen Punk. Heute ist er 60 Jahre alt und lebt in Anglesey in North Wales. Dort sitzt er während des Skype-Gesprächs in seinem Arbeitszimmer, die Haare grau und abstehend. Als er Cobain damals interviewte, habe der nicht gesund ausgesehen und sei stoned gewesen, berichtet Savage. „Aber er war intelligent, smart, humorvoll, es war Lebensfreude in ihm.“
Ob mit Kurt Cobain auch der Rock'n'Roll starb? „Nein, so würde ich das nicht sagen“, sagt Savage.
Als der Völkermord in Ruanda begann, machte unsere Autorin, Tochter einer Tutsi, dort gerade Urlaub. Zwanzig Jahre später blickt sie zurück – und nach vorn. Wie Ruandas neue Generation versucht, ihr Land neu zu erfinden, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 5./6. April 2014. Außerdem: Warum Maos Notizen zum Partisanenkrieg beim Computerspielen helfen. Und: Der Lyriker Yahya Hassan war gerade volljährig, als sein Gedichtband ein Bestseller wurde, ein sonntaz-Gespräch über fehlende Vaterliebe und den Hass der Islamisten. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Dagegen spricht auch der Song „Hey Hey, My My“ von Neil Young, den Cobain damals in seinem Abschiedsbrief zitierte. Im Lied kommt der Satz vor: „Rock and Roll can never die.“ Er ist zum Mantra aller Rockfans geworden. Viele denken zuerst an diesen Spruch bei Neil Youngs Song, obwohl Cobain in seinem Abschiedsbrief eine andere Zeile aus dem Lied hinterließ: „It’s better to burn out than to fade away.“ Man fand diese Notizen neben dem Toten in der Dachkammer seiner Garage in Seattle, in der er sich erschoss.
Cobains Tod ist bis heute eine mythisch aufgeladene, riesengroße Projektionsfläche. „Die romantische Faszination für den Tod eines jungen, aufbegehrenden Menschen ist ja eine Konstante in der Kulturgeschichte“, sagt Savage, „da kommt man vom Werther über James Dean ganz schnell zu Ian Curtis von Joy Division und zu Cobain.“ Und Janis Joplin, Jimi Hendrix nicht vergessen.
Generation X
Aber Cobain stellte mehr dar als verzweifelte Jugend und Rebellion. Er und seine Musik spiegeln – und das war anders als früher – das Ungefähre der Zeit, in der er lebte und in der folglich auch wir lebten. Diese war geprägt von der Unsicherheit, die das Ende des Kalten Krieges mit sich brachte, von MTV, von der viel beschworenen Generation X, die in seltsam neoliberale Verhältnisse hineingeboren wurde, was orientierungslos machte.
Nirvana, die 1987 gegründete Band, spielte den passenden Sound dazu. Grunge heißt die Melange aus Indie, Punk, Songwriter und Noiserock. Weil Musik durch MTV visuell war, spielte der Style zudem eine Riesenrolle. Auch er drang bis zu uns in die westfälische Provinz, genauer bis in die Raucherecke auf dem Schulhof, wo wir die Zigaretten selbst drehten und löchrige Cordhosen zu Flanellhemden trugen wie unser Idol.
Nirvana – mit dem Namen beziehen sich Cobain und Co auf das buddhistische Nirwana – wurde für uns lebenswichtig. Den ganzen Wahnsinn des Erwachens und Erwachsens hätte ich ohne diese Band nur halb so gut ausgehalten. Wenn Cobain sang und wimmerte und schrie, verstand ich das. „I miss the comfort in being sad“, krächzte er, und da wollte ich ihm ganz sicher nicht widersprechen. Schon gar nicht, seit Marion mit dem Typen mit den Locken, der zwei Jahrgangsstufen über mir war, ging.
Cobain sei vieles gewesen, sagt Christoph Jacke, Musiktheoretiker von der Universität Paderborn, am Telefon. „Cobain als Figur, der vereinte so viel Ambivalentes – man könnte auch sagen, der verkörperte ein merkwürdiges Dazwischen. Da war das punkige Dagegen, da war die Fluchtbewegung und Rückzug, da war etwas Späthippieskes. Und da waren auch Reste von Rockstartum und gleichzeitig etwas sehr Weiches?“ Jacke hält nun kurz inne, sagt: „Sie merken, es beginnt zu sprudeln“, und fährt fort, „irgendwie hatte er dann auch noch etwas von einer Couchpotato und einem Hängertypen.“
Jacke leitet den Studiengang Populäre Musik und Medien an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Uni Paderborn. Das sei toll, diese Diskurse und Mythen über Cobain und das „Seattle-Modell“, das von dort auf Europa überschwappte, das sage, meint er, ja auch was über unseren Gesellschaftszustand. Das „Seattle-Modell“: Im Pop bedeutete es, sich gegen den Starkult um den meist weißen, männlichen, gut aussehenden Frontmann einer Rockband zu stellen. Und gesellschaftlich war es ein Stinkefinger gegen den alles beherrschenden Konsumismus, Karrierismus, Konformismus.
Gefährliches Leben
Cobain war der Posterboy dieses Modells und dieser Art der verzweifelten Musik, die zwar Grunge hieß, aber doch eigentlich Punk war. „Kurt Cobain hatte viel von einem Punk“, erklärt deshalb auch Savage, der englische Punk-Chronist, „er hat sich für Gay und Women’s Rights stark gemacht. Und er stand klar auf der Seite der Underdogs und Outsider. Er mochte Leute, die irgendwie anders waren.“ Und er hatte ein Gespür für das, was die Leute umtrieb. Jedes Wort, das Cobain über die „Teenage Angst“ sang, die Orientierungslosigkeit und Leere, war auch so gemeint. „Here we are now, entertain us.“
Kurt Cobain gilt vielen als der „erste MTV-Tote“. Spätestens seit diesem „ersten MTV-Toten“ muss jede erfolgreiche Band ihre mediale Inszenierung mitdenken und zudem mitdenken, welche künstlerischen Strategien der Verweigerung es gibt, wenn die Verweigerung selbst zum Produkt wird.
Szenenwechsel: Im Hinterzimmer des Indie-Clubs Vera in Groningen sitzt Peter Weening. Seit 1976 organisiert er in dem kleinen, unscheinbaren Haus in der Groninger Innenstadt Konzerte. U2, The Birthday Party, DAF – solche Bands spielten da, lange bevor sie berühmt waren. Auch Nirvana trat 1989 dort auf. Vor 80 Leuten. Zwei Jahre später spielten sie vor 10.000. „Es war gefühlt das erste Mal, dass eine Band von ’uns‘ so durch die Decke ging“, erinnert sich Weening. An den Wänden im Vera, auch in dem verrauchten, mit CDs, Fanzines und Equipment zugestellten Büro, hängen bis heute kopierte, bekritzelte Konzertplakate von Bands wie Dinosaur Jr., Screaming Trees oder Sonic Youth, die für Nirvana ein wichtiger Einfluss waren.
Auch Cobains Frau Courtney Love, Mutter der gemeinsamen Tochter Francis Bean, hat 1991 mit ihrer Band Hole im Vera gespielt. „Als sie gerade hier war, hatte ich plötzlich Kurt am Telefon“, erzählt Weening. „Er wollte ihr einen Heiratsantrag machen, den ich überbringen sollte. Er selbst hatte sich nicht getraut. Das sei so typisch Kurt, sagte damals ein Freund, der mit ihm zuvor auf Tour war.“ Weening hat Love dann doch ans Telefon geholt; wie dieses Gespräch ausging, ist nicht ganz klar.
Who cares?
Über die Gründe zu spekulieren, warum Kurt Cobain sich erschoss, findet Christoph Jacke, der Musiktheoretiker der Uni Paderborn, müßig: „Wir wissen nichts über das private Leben eines Stars. Cobain war Vater, Drogenabhängiger, Nirvana-Chef – er hat viele Rollen innegehabt wie wir alle. Welche Gemengelage zu seinem Tod geführt hat: Who cares?“
Nach Nirvana jedenfalls kam erst mal nur Britpop – mit Oasis auch die Rückkehr zur Rockstar-Gestik – und die Love Parade.
Auf dem Schulhof aber blieb Cobains Tod lange ein Thema. Hinter den „Nirvana“-Schriftzug auf unseren Bundeswehr-Rucksäcken pinselten wir mit dem Edding ein „R. I. P., Kurt“. Die Karte für ein Nirvana-Konzert in Köln, die ich noch hatte, verlor ihre Gültigkeit. Das Konzert sollte am 14. März 1994 stattfinden. Cobains Kollaps in Rom kam dazwischen, der Auftritt wurde verschoben und sollte nachgeholt werden. Ein paar Wochen später hatte sich das erledigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers