: Von der Welt vergessen
Seit Jahren herrscht Krieg im englischsprachigen Teil Kameruns. Separatisten und Armee kämpfen auf dem Rücken der Bevölkerung. Eine Lösung der „anglophonen Krise“ ist im Wahljahr nicht in Sicht
Aus Buea Helena Kreiensiek
Die beiden Schalen der Justitia-Waage auf Felix Agbor Nkongho Ballas Schreibtisch hängen in Schieflage. Ob Zufall oder nicht, der Anblick des kleinen Modells auf dem massigen Schreibtisch des kamerunischen Menschenrechtsanwalts wirkt wie ein Sinnbild. „Die Menschen sind müde“, sagt Balla. „Seit Jahren sterben jeden Tag Menschen.“
Fast neun Jahre nach Beginn der sogenannten anglophonen Krise in Kamerun ist immer noch kein Ende in Sicht. Stattdessen findet sich die Bevölkerung im englischsprachigen Landesteil in einer Gewaltspirale zwischen bewaffneten Separatisten und Armee wieder. „Gleichzeitig ist das Interesse abgeebbt“, sagt Balla.
Kameruns Konflikt zählt zu den sogenannten vergessenen Krisen der Welt. Tausende wurden bereits getötet, Hunderttausende sind im eigenen Land auf der Flucht. Auslöser für den Konflikt war 2016 eine Entscheidung der Regierung, französischsprachige Lehrer und Anwälte in die Schulen und Gerichte der anglophonen Regionen zu entsenden. „Wir sprechen hier aber kein Französisch“, sagt Lucas Mola. „Ich habe es in der Schule nie richtig gelernt.“
Der 20. Mai ist in Kamerun seit 1972 Nationalfeiertag – am 20. Mai 1972 wurde die föderale Verfassung, die 1961 die Eingliederung des anglophonen Kamerun ermöglicht hatte, per Referendum wieder abgeschafft, ein Beweggrund für den separatistischen Aufstand im anglophonen Südwesten.
Dieses Jahr steht der „Einheitstag“ unter dem Motto „Einheit von Armee und Nation für ein Kamerun von Frieden und Wohlstand“ – eine Kampfansage an Separatisten und sonstige Gegner des seit 1983 regierenden Präsidenten Paul Biya, der sich im Oktober wiederwählen lassen will. Im anglophonen Landesteil zirkulieren Aufrufe zu einem Boykott.
Der Tourguide organisiert eigentlich Ausflüge und Wanderungen. Doch seit Ausbruch des Konflikts bleiben die Touristen weg. Aufgewachsen in Buea spricht Mola englisch, der Großteil des Landes aber spricht französisch. Wer im Kamerun einen Pass beantragen, eine Firma gründen oder ein wichtiges Dokument beglaubigen lassen will, muss dafür meist nach Yaoundé reisen. In der Hauptstadt aber wird fast ausschließlich Französisch gesprochen. Wer dies nicht spricht, muss sich im eigenen Land auf eigene Kosten einen Übersetzer organisieren – nur ein Beispiel für eine strukturelle Benachteiligung, die viele Anglophone empfinden: mangelnde politische Repräsentation, ungleiche Verteilung staatlicher Investitionen, Ignoranz gegenüber ihrer kulturellen Identität.
Die sprachliche Aufteilung Kameruns ist ein koloniales Überbleibsel. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Kolonie Kamerun zwischen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt. Nach der Unabhängigkeit 1960 schlossen sich die britischen „Southern Cameroons“ in einem umstrittenen Referendum wieder Kamerun an – mit dem Versprechen von Autonomie in einer föderalen Struktur, was aber nicht eingelöst wurde.
Der Frust darüber entlud sich 2016 zunächst in friedlichen Demonstrationen, als Anwälte und Lehrer auf die Straße gingen. Kameruns Militär reagierte mit Einschüchterung, Verhaftungen und Folter, Teile der Bewegung radikalisierten sich. Einige riefen die unabhängige „Republik Ambazonien“ aus, samt einer Übergangsregierung im Exil und einer bewaffneten Gruppe namens Ambazonia Defence Forces (ADF).„Was wir in den letzten Jahren beobachten, ist eine immer stärkere Fragmentierung des Konflikts“, sagt Ladd Serwat von Acled, einer internationalen Konfliktbeobachtungsstelle. „Während die Separatisten anfangs erhebliche finanzielle Unterstützung durch im Ausland lebende anglophone Kameruner erhalten haben, sind diese Geldströme seit etwa 2019 deutlich zurückgegangen.“ Gründe dafür seien verstärkte Gegenmaßnahmen des Staates, aber auch eine wachsende Entfremdung zwischen der Diaspora und den bewaffneten Gruppen vor Ort.
„Die immer stärker zersplitterten Separatistengruppen richten ihre Gewalt zunehmend gegen die eigene Bevölkerung, was viele Unterstützer im Ausland abgeschreckt hat. Und mit dem Rückgang der Geldflüsse steigt wiederum der Druck auf die Gruppen, sich auf andere Weise zu finanzieren“, sagt Serwat. Entführungen gegen Lösegeld und Zwangssteuern seien mittlerweile zentrale Einnahmequellen der Separatisten: „Die Bevölkerung, für deren Rechte ursprünglich gekämpft wurde, ist selbst zur Zielscheibe geworden.“
Für Menschenrechtsanwalt Felix Agbor Nkongho Balla hat die Gewalt eine weitere beunruhigende Folge: „Wir sind an einem Punkt, wo gefeiert wird, wenn ein Soldat getötet wird, und gefeiert wird, wenn ein Separatist getötet wird. Aber so eine Verherrlichung von Gewalt beeinflusst die Psyche. Das macht mir Sorgen.“
Was das bedeutet, zeigt sich in den Geschichten jener, die zwischen den Fronten leben. „Ich habe keine Lust auf Ärger“, sagt Edgar und möchte nicht, dass sein echter Name genannt wird. Der junge Mann teilt seine Geschichte nur, weil ihn ein gemeinsamer Freund um den Gefallen bittet.
Während im Hintergrund ein Actionfilm läuft, spricht Edgar leise und bedacht. „Ich habe 2015 meinen Abschluss in Personalmanagement gemacht und wollte danach mein eigenes Business starten“, erzählt er. Ein Jahr später begann die Krise. Zunächst habe er noch Mais produzieren können, aber 2018 wurde es zu gefährlich. „Ich musste mein Land aufgeben, in das ich all mein Geld gesteckt hatte“, sagt er. Dann kam die Zusage für ein Studium in Kanada, doch das Visum wurde abgelehnt. Edgar startete neu, baute sich wieder eine Farm auf – und musste erneut fliehen. „Vier Stunden bin ich zu Fuß durch den Busch gerannt, bis ich in Sicherheit war“, erzählt er. Seit 2024 betreibt er nun ein kleines Restaurant und bestellt ein kleines Stück Land. Es ist das dritte Mal, dass er sich von null eine neue Existenz aufbaut.
„Wenn du kein Französisch kannst, hast du kaum eine Chance“, sagt Edgar. Aber der „Struggle“, wie er den bewaffneten Kampf nennt, sei von einer kleinen Minderheit gekapert worden. „Wir sind nicht alle Ambas“, sagt er und meint damit die Kämpfer der ADF. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen im Oktober hat Edgar nur einen Wunsch: „Dass es uns danach besser geht.“ Wählen gehen wird er aber nicht.
Je näher die Präsidentschaftswahlen 2025 rücken, desto größer wird die Sorge vor einer weiteren Zunahme von Gewalt. Die Regierung hält an ihrer harten Linie fest. Geht es nach Professor Kingsley Ngange von der Universität Buea, ist die nicht hart genug. „Unser Präsident ist ein friedlicher Mensch“, sagt er über Kameruns Staatschef Paul Biya und verweist auf dessen Ausbildung als Priester. „Wir haben Glück, dass wir ihn in diesen Krisenzeiten an unserer Seite haben.“
Seit 42 Jahren regiert Biya bereits, das Bild des ewigen Regenten hängt prominent im Büro des Professors, und an seiner Haltung zu den Separatisten lässt er keinen Zweifel. Von „Analphabeten“ ist die Rede, von „Kriegstreibern“, die das Land ins Chaos gestürzt hätten. „Das haben wir jetzt davon“, donnert er durch den Raum. Am Handgelenk blitzen eine breite goldene Uhr und ein massives Armband, am Finger ein markanter Ring. Die Forderungen nach Gleichberechtigung und Selbstbestimmung hält er für vorgeschoben.
Auf eine Sache aber können sich wohl alle einigen: Die Gewalt hat nichts gelöst. „Es ist leicht, eine Krise zu beginnen, aber wie beenden wir sie?“, stellt Kingsley Ngange die Frage aller Fragen.
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