Vom Prager Frühling zum Prager Herbst

Als am 21.August 1968 sowjetische Panzer durch Prag rollten, beendeten sie nicht nur den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Mit der Zementierung des Realsozialismus begann auch der Weg seiner Überwindung.  ■ Von Gert Weisskirchen

1968 – ein Jahr von Hoffnung und Trauer, von Aufbruch und Ende. Der „Bruch“ erfolgte am 21. August und ließ die Tschechoslowakei zurück in der Melancholie der verlorenen Selbstbestimmung.

Der Prager Frühling währte nur einen kurzen Sommer. Die Panzer der Roten Armee rollten aus Angst vor dem Untergang der kommunistischen Nomenklatura. Das Aktionsprogramm des Zentralkomitees der KPČ vom April 1968 wollte Unerhörtes für eine kommunistische Partei an der Macht: die Sowjet-Diktatur sollte beendet, die Freiheit der Versammlung und der Koalition verwirklicht und die Freizügigkeit garantiert werden.

Demokratische Kooperation und Föderation der Republiken sollte die Unterdrückung ablösen. Die Wirtschaft sollte dezentralisiert werden, private Kleinbetriebe entstehen. Sozialismus und Demokratie sollten miteinander verbunden werden. „Ein hoffnungsloser Fall, ein Konterrevolutionär“, urteilte Breschnew über Alexander Dubček und Gomolka senkte in einem Geheimbericht den Daumen: „Dies ist eine bürgerliche Republik“. Das Signal zur Invasion kam aus Moskau und der Warschauer Pakt folgte ihm. Deutsche, mal wieder, voran. Und mit Deutschland hatte die Vernichtung des Experiments an der Moldau zu tun. „Für immer“, wollte Breschnew den Sieg seiner Generation im Großen Vaterländischen Krieg sichern. Europa sollte geteilt bleiben.

Die Fesseln von Jalta

Und auch die Antwort des Westens besiegelte die Abreden von Jalta. Die Reformer in Prag wollten sich „von der bleiernen Schwere befreien“ (Dubček) und der Westen stellte Stabilität vor Freiheit. Dem Osten blieb sein unglückliches Bewußtsein. In verzweifelten Träumen kultureller Selbstbehauptung wehrte er sich gegen den Verlust einer Zukunft, die die Fesseln von Jalta hätte abwerfen müssen, wollte sie Wirklichkeit werden. In den Straßen Prags starb 1968 nicht allein das Experiment der KPČ. Mit ihm richtete Moskau die letzte Überlebenschance des sowjetischen Kommunismus hin. Seine Unfähigkeit zur Veränderung war endgültig offenbar geworden. Moskau trieb den trotz aller Enttäuschungen noch verbliebenen Rest des Willens zur Reform des Leninschen Modells in die Dissidenz.

Doch damit begann zugleich auch das Ende der Konstellation, die Jalta geschaffen hatte. Die „Normalisierung“ nach 68 trieb den bürokratischen Kommunismus auf die Höhe seiner Macht. 1975 wurden in Helsinki die Grenzen in Europa anerkannt. Breschnew glaubte sich und die Internationale seiner Nomenklatur so fest, daß er sich auf die Diskussion über die Einhaltung der Menschenrechte einlassen konnte. Damals wußte er noch nicht, daß er dem Untergang der Sowjetmacht zugestimmt hatte.

Zuvor ging der europäische Osten einen langen Leidensweg. Die Phantasien der Menschen und ihre Kraft wandten sich ihrem Privatleben zu. Die Gesellschaft entleerte sich, der Staat blähte sich auf. Den ostmitteleuropäischen Staaten wurden streng begrenzte Spielflächen der autoritären Auflockerung von oben erlaubt. Bewegungen wurden vorgetäuscht, damit ungebundene Fähigkeiten nicht über die formierte Herrschaft hinausschießen konnten. Als Beispiel des Kadarschen Ungarn sollte erprobt werden, wie die persönliche Kreativität abgefangen werden kann in der ökonomischen Selbstausbeutung einer „kleinen Privatisierung“, die sich in den Grauzonen zwischen Legalität und Illegalität bewegte. Der Wille zu fundamentalem Wandel sollte gebannt und die Menschen ausgelaugt werden. So bereitete sich nicht nur der Prager Herbst 1989 vor.

1968 noch schien es, als könnten Träume wahr werden. Der weltweite Aufbruch wollte sich nicht begrenzen auf die Nation, sie sollte überwunden werden. Die Sympathie für den fundamentalen Wandel in der Tschechoslowakei sprang auf den Westen über. Manche Akteure empfanden die Veränderungen als aufeinander bezogen. Für Adam Michnik, damals Studentenführer in Warschau, war 1968 „ein großes Erwachen, ein Stück Leben auf eigene Rechnung.“ Die „Emanzipation der Menschen und der Gesellschaft“ war für Petr Uhl, in jenen Tagen Prager Trotzkist, der Brückenpfeiler zwischen Ost und West. Die Erwartungen jedoch bezogen sich aufeinander. Die demokratische Linke des Ostens suchte die Debatte mit der demokratischen Linken des Westens.

Der Blick zurück führt zur Legendenbildung

Den Weg durch den „Eisernen Vorhang“ fanden aber nur wenige. Rudi Dutschke hielt in den Diskussionen an der Prager Karls-Universität fest an seinem undogmatischen Bild von Karl Marx und den Zielen der Arbeiterbewegung. Mit großen Gruppen seiner Generation lehnte sich Rudi Dutschke aber auch auf gegen falsche, nur formale Autorität. Das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der Deutschen unterschied ihn. Die DDR schrieb er nicht ab. Solidarität blieb ihm unteilbar, national und international.

Der Blick zurück in Trauer ruft als Echo des Vergangenen die Legende hervor. Unser kollektives Gedächtnis dürfen wir nicht belügen: die 68er kämpften hart um die Essenz der Demokratie, in Ost und West. Weil sie unendlich viel Kraft verlor im Streit um den Weg, der zu gehen sei, um die formale in eine inhaltliche Demokratie zu transformieren, eröffnete die demokratische Linke der Gegenreformation schließlich eine neue Chance zur Macht.

Wer 68 vom Kopf auf die Füße stellt und die beiden Zahlen umtauscht, liest das Jahr der (ost)europäischen Revolutionen – ein Zeitsprung und doch verbunden. Was wir im Westen fast gering schätzten, war im Osten zum neuen Projekt geworden – die aktive zivile Bürgergesellschaft. Ein erheblicher Teil der westlichen demokratischen Linken empfand den der civil society innewohnenden Kompromißcharakter als historisch überholt, während der Osten sie anstrebte. Die „Solidarität der Unterdrückten“ (Jan Patočka), die der Osten sich vom Westen erhoffte, blieb unter ihren Möglichkeiten.

Der Aufbruch von 1989 im Osten fand im Westen keine Antwort. 1968 konnten Handelnde in Ost und West sich selbst individuell und mit anderen gesellschaftlich Neues entdecken. Weil 1989 der Aufbruch auf den Osten begrenzt blieb und sich der Westen zumeist verschloß, nehmen die Menschen eher wahr, was gleichblieb, weniger, was sich veränderte.

Europa wird die Dämonen der Vergangenheit nur bannen, wenn komplementäre Prozesse der gesellschaftlichen Transformation sich in Gang setzen. Noch leben wir unter unseren reformerischen Möglichkeiten. Für die Neokonservative Brigitte Seebacher- Brandt ist „das Erbe der 68er ... versunken“. Adam Michnik hält dagegen: „Der Streit um das Jahr 68 ist ein Streit um Vergangenheit und ... wie die Zukunft in Angriff zu nehmen ist.“

Der Autor ist SPD-Bundestagsabgeordneter