■ Vom Nachttisch gerämut: Zeigefinger
Boris Cyrulnik ist Neurologe, Psychiater und Psychoanalytiker. In seinem faszinierenden Buch „Was hält mein Hund von meinem Schrank?“ fand ich einen Passus, in dem er beschreibt, wie der Mensch zur Sprache kommt. Er beschreibt darin eine Versuchsanordnung, in der die Kamera Vorgänge sichtbar macht, die dem bloßen Auge entgehen. Wenn er richtig analysiert, gehören zum Sprechen stets drei: der Sprecher, der Angesprochene und der Gegenstand, über den gesprochen wird. Sie werden zusammengeschlossen vom Begehren des Sprechers: „Der Säugling sitzt in seinem Babystuhl, und der Tisch vor ihm ist außerhalb seiner Reichweite. Man setzt auf den Tisch einen Gegenstand, der durch die Mutter bezeichnet und vom Säugling begehrt wird: Teddybär, Schmusekissen... Von dieser Szene machen wir eine Aufnahme. Fünf Minuten, jeden Monat in der gleichen, nahezu standardisierten Situation. Man stellt nun fest, daß das Kind bis zum Alter von neun oder zehn Monaten, von seinem Babystuhl aus, alle Finger zu dem begehrten Gegenstand ausstreckt, seinen Blick in diese Richtung lenkt und zu schreien anfängt, wenn es merkt, daß es ihn nicht erreichen kann. Aber plötzlich, um den zehnten oder elften Monat bei den Mädchen, um den dreizehnten oder fünfzehnten Monat bei den Jungen, sieht man einen auf dem Film leicht wahrnehmbaren Verhaltenswechsel sich vollziehen. Das Kind beginnt mit dem Finger zu zeigen. Das ist ein Fortschritt von großer Bedeutung, denn um diese Geste auszuführen, muß das Kind aufhören, den Gegenstand unmittelbar erreichen zu wollen, um ihn sich anzueignen; es muß darüber hinaus die sehr entwickelte Vorstellung erwerben, daß es durch Bezeichnung auf etwas verweisen kann, was sich entfernt im Raum befindet und was es vermittels seiner Mutter erreichen kann. Eine feinere Analyse unseres Films läßt ein Detail erscheinen, das man mit bloßem Auge kaum bemerkt. Während das Kind seine bezeichnende Geste ausführt, schaut es die Mutter an. Und dann, genau zu diesem Zeitpunkt, versucht es die stets mißlingende Artikulation eines Wortes.“
Boris Cyrulnik: „Was hält mein Hund von meinem Schrank? – Zur Entstehung von Sinn bei Mensch und Tier. Plädoyer für eine nichtvergleichende Verhaltensforschung“. dtv, München 1995, 107 Seiten, 12,90 DM
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