Vom Küssen und Knutschen: Mund auf, Augen zu
Lange Zeit galt er als unsittlich. In den 90ern gewann er neuen Aufwind. Doch heute ist er fast aus dem öffentlichen Raum verschwunden: der gute, tiefe Zungenkuss.
Den ersten Zungenkuss vergisst man nie, heißt es. Es war an einem jener Sommerabende, die noch die Glut des Nachmittags in sich tragen, obwohl die Sonne längst hinter dem Riesenrad verschwunden ist. Es war ein Abend auf der Kirmes, die Luft roch nach Zuckerwatte, Bier, Zigarettenrauch; und am Geländer der Berg-und-Tal-Bahn lehnten zwei vielleicht 18-jährige Liebende, die einander die Zunge in den Mund steckten, während im Hintergrund Blondie "Heart of Glass" sang. "Iiiiiiiiih", schrien wir Kinder angesichts dieses seltsamen Tuns, doch eine uns begleitende Erziehungsberechtigte sagte nur - mit seltsam sehnsuchtsvollem Timbre in der Stimme: "Ach, Kinder. Wenn ihr nur wüsstet, wie schön das ist. Es ist ein Zeichen der Liebe".
Dann irgendwann, in den späten Achtzigern, wurden diese Zeichen der Liebe noch immer mit Verboten belegt. Auf dem Pausenhof des kleinstädtischen Gymnasiums sollte das Küssen unter Oberschülern besser unterbleiben, um die jüngeren Mitschüler nicht in moralische Bedrängnis zu bringen. Doch schon wenige Zeit später, die frühen Neunziger müssen es gewesen sein, obsiegte auch hier in den Raucherecken des Pausenhofs endgültig die sexuelle Revolution. Es durfte geknutscht werden. Und es wurde auch geknutscht. Mit Zunge. Und das nicht mehr - wie zuvor - in den Schultoiletten. Heterosexualität wurde lange Zeit unterdrückt.
Heute darf man auf Pausenhöfen nicht mehr rauchen. Zugleich scheint es, als sei der Zungenkuss aus dem öffentlichen Raum verschwunden wie die Aschenbecher aus den Cafés. Öffentlich geküsst wird nur noch in Film und Fernsehen, manchmal sogar richtig mit Speichelfäden, manchmal aber auch nur vorgetäuscht, wie zuletzt prominent zwischen Jay Khan und Indira im "Dschungelcamp". Nicht kussecht, erkannten die Zuschauer. Zungenküsse in Fußgängerzonen, Einkaufszentren und sonstigen öffentlichen Räumen werden höchstens noch von Teenagern praktiziert, die kein adäquates Zuhause haben - also noch bei Eltern wohnen, die erotische Experimentierfreudigkeit ablehnen.
Des Weiteren sind öffentliche Zungenküsse zu einer Protestform geworden: So küssten sich anlässlich des Papstbesuchs in Barcelona vor einem Jahr Hunderte von Schwulen und Lesben demonstrativ, um auf die restriktive Sexualmoral des Vatikans hinzuweisen. Den Papst, selbst ein leidenschaftlicher Küsser von Flughafenrollfeldern, focht das nicht an - und in der Tat sind es vor allem Schwule, die bei einem Kuss in der Öffentlichkeit noch immer mehr als einen dummen Spruch von der Seite riskieren.
Alle anderen halten sich nunmehr an das einst autoritär Eisenhower-hafte Gebot "Get a Room!", das im Deutschen in Form einer grob Adenauer-haften Frage daherkam: "Habt ihr kein Zimmer?!" Gemeint war damit stets ein Motel- bzw. Stundenzimmer, heute jedoch nennt man als junger Mensch meist schon recht früh eine Wohnung oder wenigstens ein Zimmer sein Eigen. Dort knutscht man nun nach Herzenslust und denkt sich nichts dabei. Nur noch selten sieht man solcherlei Betätigung in abendlichen Parkanlagen, dem öffentlichen Nahverkehr oder in einem Club. Die einst raunend als "französisches Küssen" gepriesene Technik des Zungenkusses wurde von einer anderen Variante des ebenfalls französisch inspirierten Küssens aus der Öffentlichkeit gedrängt: Bussi links, Bussi rechts - der Wangenkuss hat mit dem Ausbruch der Informations- und Mediengesellschaft die Münchener Innenstadt hinter sich gelassen und ganz Deutschland erobert.
Doch das wirklich Intime stellt man nicht mehr aus, weil man es nicht mehr nötig hat - oder liegt es doch eher daran, dass die Zeiten ein wenig keusch geworden sind? Die Intimität des Kusses ist jedenfalls unter die Forscher und Publizisten gefallen. Längst gibt es die wissenschaftliche Disziplin der "Philematologie", die mit lästigen Hormonbefunden und Theorien aufwartet. Die Frau, so heißt es, prüfe mithilfe eines Zungenkusses die genetische Beschaffenheit des potenziellen Kindsvaters, während der Mann ganz viele speichele, damit sie auch hinreichend prüfen könne. Ansonsten habe dieser es aber - natürlich ganz anders als die an die schicksalhafte Mütterlichkeit gekettete Frau - mal wieder bloß auf Sex abgesehen. Das Gehirnareal würde aktiviert und ein Kuschelhormon ausgeschüttet.
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Chemisch: Der Botenstoff Oxytocin wird im Gehirn gebildet, unter anderem wird er beim Küssen ausgeschüttet. Daher wird er auch landläufig als "Kuschelhormon" bezeichnet. Oxytocin soll zudem für die starke Bindung der Mutter zum Kind verantwortlich sein.
Poetisch: Cyrano de Bergerac bezeichnete den Kuss einst als das "Rosenpünktchen auf dem i der Liebe". Und William Shakespeare legte Rosalie in As you like it in den Mund: "Wenn Liebhabern der Stoff ausgeht, so ist der schicklichste Behelf zu küssen."
Medizinisch: Bei der "Kusskrankheit" handelt es sich eigentlich um das Pfeiffer-Drüsenfieber, eine meist harmlos verlaufende Viruserkrankung. Bei Jugendlichen wird das Virus allerdings tatsächlich häufig von Mund zu Mund übertragen.
Warum bloß küsst der Mensch, will der Mensch wissen. Der Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeldt befand, dass der Mensch schnäbelnd, saugend und speichelnd archaisches Fütterverhalten nachspiele - "Iiiiiiiiiiih!", möchte man rufen. Orang-Utans und Bonobos täten dies auch, aber man kann sie auch nicht fragen, ob sie nicht vielmehr Zeichen der Liebe setzen wollen. Trotz Herpes simplex heißt es aber immerhin, Küssen sei gesund. Man verbrenne währenddessen 750 Kalorien (in der Stunde …) und stärke sein Immunsystem. Als unbestritten gilt im Jahr 2011 auch der Befund, dass man vom Küssen keine Kinder bekommt.
Bei all diesen öffentlichen Befunden, die besonders gern anlässlich des Valentinstages zum Besten gegeben werden, ist es wohl am Ende besser, sich nur noch hinter zugezogenen Gardinen zu küssen. Einfach so. Völlig sinnlos und so lange, bis sich einem alles im Kreise dreht. Berg-und-Tal-Bahn eben, man weiß doch, wie schön das ist.
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