: Volltanken, Ted
Im hintersten Winkel Irlands wird Heinrich Bölls Haus zur Writers Residence. Die Eröffnung geriet zu einer Art Familientreffen ■ Von Ralf Sotscheck
Sobald das Wort Mayo fällt, fügen die Iren hinzu: ,God help us!‘ Es klingt wie die Antwort in einer Litanei: ,Herr, erbarme dich unser!‘“ Seit Heinrich Böll vor 35 Jahren sein Irisches Tagebuch schrieb, hat sich in der westirischen Grafschaft nicht viel verändert. Noch immer gehört Mayo zu den ärmsten Regionen Westeuropas, noch immer verlassen die Menschen das karge Land und gehen nach Dublin, nach England oder in die USA. Je weiter man nach Westen vordringt, desto menschenleerer ist die Gegend.
Mayo die ärmste Region Westeuropas
Hinter Mayos Hauptstadt Castlebar führt eine Drehbrücke über den schmalen Sund — den Achill Sound — nach Achill Island, die mit 142 Quadratkilometern größte Insel vor der Küste Irlands. Achill scheint nur aus atemberaubenden Klippen, Heide und Moor zu bestehen, die wenigen Bäume wachsen wegen der stürmischen Atlantikwinde in einem Winkel von 45Grad aus dem Boden. Am Fuß des 661 Meter hohen Slievemore an der Nordküste Achills liegt das Dorf Dugort. Gleich am Ortseingang steht an der rechten Seite ein hufeisenförmiges Cottage in frischem Weiß: Heinrich Bölls Haus. Am Samstag parkten Dutzende von Autos am Straßenrand und richteten für einen Moment ein Verkehrschaos an. Ein großer Tag für den Ort: Bölls Haus wird offiziell als Schriftstellerzentrum eröffnet.
„Das Projekt stand schon mindestens vier Jahre im Raum“, sagt Bölls Sohn René. „Wir hatten bisher jedoch nie die richtige Form gefunden. Die irische Seite hat es dann stark vorangetrieben. Das Haus gehört weiterhin unserer Familie, wird jedoch der Heinrich-Böll-Stiftung und einem irischen Trägerverein, der bisher noch keinen Namen hat, zur Verfügung gestellt.“ Zu dem Verein, der seinen Sitz in Dublin hat, gehören auch renommierte Schriftsteller und Kritiker.
Das Haus bietet Platz für jeweils zwei SchriftstellerInnen, die hier für einen längeren Zeitraum leben und arbeiten können. Ein weiteres Haus, das der Familie Böll auf Achill gehört, soll später noch dazukommen. Der Aufenthalt ist nicht projektgebunden und wird mit 1.500Mark monatlich unterstützt. „Die Unterhaltskosten tragen beide Seiten“, sagt Berthold Langerbein von der Heinrich-Böll-Stiftung. „Das Haus war in sehr schlechtem Zustand, weil lange Zeit niemand darin gewohnt hat. Es ist im letzten Jahr renoviert worden. Vorher gab es keine Heizung, nur Kamine und ein kleines Elektrogerät.“
Ursprünglich bestand das Haus lediglich aus einem winzigen Cottage und einem Schuppen mit Garage im Hof. Heinrich Böll hat den Schuppen und die Garage zu drei kleinen Zimmern ausbauen und auch die Verbindung zum Cottage anbauen lassen. In der ehemaligen Garage steht sein Schreibtisch — eine Holzplatte auf Böcken — mitsamt Holzstuhl. „Einige seiner Romane sind an diesem Schreibtisch entstanden“, erzählt René Böll. „Ich weiß allerdings nicht welche. Er sagte, er hätte hier immer am besten arbeiten können.“
Wie ist Böll überhaupt nach Achill gekommen? „Mein Vater ist 1954 zum ersten Mal durch Irland gereist und durch einen Bekannten auf Achill aufmerksam gemacht worden“, sagt René Böll. „Wir sind dann ab 1955 zwei oder drei Jahre im Sommer nach Achill gekommen und ein paar Monate geblieben. Wir waren zuerst in Keel auf der anderen Seite der Insel. Dort hat mein Vater auch das Irische Tagebuch geschrieben. Dann haben wir 1958 das Haus hier gekauft.“ René Böll, der früh von der Schule abgegangen ist, hat viele Monate mit seinem Vater in Dugort verbracht.
Heute gibt es nur noch wenige Protestanten hier
Am Samstag kann man sich in dem kleinen Haus kaum bewegen. Aus allen Teilen Achills sind die Menschen gekommen, um das Haus zu besichtigen. Die offizielle Feier wird deshalb in die 300Meter entfernte „Colony“ verlegt, eine L-förmige protestantische Siedlung, die 1834 gegründet wurde, um die katholischen Inselbewohner zu missionieren. Heute gibt es nur noch eine Handvoll Protestanten, die kleine Kirche hat keinen eigenen Pfarrer mehr. „Wir sind nur noch wenige“, erzählt Frau McDowell, die eine kleine Pension in der „Colony“ betreibt und das größte Frühstück der Insel serviert. „Aber wir kommen mit unseren katholischen Nachbarn sehr gut aus.“
Die offiziellen Redner, darunter auch der deutsche Botschafter Martin Elsässer, singen ein Loblied auf Böll. Das war nicht immer so. Noch vor fünfzehn Jahren wurde er nicht nur von CDU-Politikern als „Terroristenfreund“ bezeichnet. „Man muß aber fairerweise sagen, daß es immer auch Politiker gab, die zu meinem Vater gestanden haben, wenn auch nur wenige“, betont René Böll. „Es war eine harte Zeit. Während der Schleyer-Entführung hatten wir bei uns Hausdurchsuchung, 40 Mann von der GSG-9. Wir waren zwei Stunden aus dem Haus, da kamen sie, schlugen das Fenster ein und durchwühlten alles. Das war fürchterlich. Zwischen 1972 und 1977 hatten wir insgesamt fünf oder sechs Hausdurchsuchungen.“
Unter den Gästen sind auch einige, die Böll im Irischen Tagebuch verewigt hat: „Um sich abzulenken, hat die junge Arztfrau angefangen zu stricken, aber bald schon hat sie Nadel und Wollknäuel in die Sofaecke geworfen“, heißt es im Kapitel „Die schönsten Füße der Welt“. Böll beschreibt, wie die Frau voller Sorge auf ihren Mann wartet, der mitten in der stürmischen Nacht zu einer Schwangeren ins Haus an den Klippen am anderen Ende der Insel gerufen wurde. Nach vielen Stunden des Wartens sieht sie endlich den Lichtkegel und hört das Motorengeräusch des Wagens. Der Arzt kehrt mit dem Honorar zurück, einem „riesigen Kupferkessel, der von der Armada stammen soll.“
Fünfunddreißig Jahre später erzählt Frau King, die „junge Arztfrau“: „Dieses Kapitel ist entstanden, als Böll bei uns zu Hause war. Es hat sich alles so abgespielt, aber den Kupferkessel gibt es nur in seiner Vorstellung. Wahrscheinlich steht er symbolisch für irgendetwas, vielleicht wollte er damit meinem Mann ein Denkmal setzen.“ Aus den Gesprächen wird deutlich, daß Böll von den Bewohnern in die enge Inselgemeinschaft aufgenommen worden war, was durchaus nicht selbstverständlich ist. Besonders in den entlegenen Regionen Irlands bleiben selbst die Nachfahren von „Zuwanderern“ — auch wenn sie nur aus Dublin oder Cork kamen — oftmals Außenseiter. „Als Böll zum ersten Mal nach Achill kam, war er sehr arm“, sagt Frau King. „Er war schon bald eine sehr familiäre Figur in der Landschaft.“ Tom McNamara fügt hinzu: „Er war ein Gentleman in jeder Hinsicht. Es ist ihm gelungen, das Leben und die Landschaft akkurat einzufangen — sogar das verlassene Dorf. Wir sehen das jeden Tag, doch er kam und sah es mit anderen Augen. Das hat uns gelehrt, wie wir es vielleicht sehen sollten. Es ist ein großes Privileg für uns, daß er Teil des Lebens auf Achill war.“ Und Ted Lavelle, dem früher die Tankstelle am Sund gehörte, sagt: „Er kam zweimal in der Woche zu mir. ,Volltanken, Ted‘, sagte er immer. Er war ein wunderbarer Mensch.“
Zentrum für Schriftsteller
Tom McNamara und Frau King gehören dem irischen Trägerverein an, der die „Writers in Residence“ auswählt. „Es war schon lange mein Traum, daß dieses Haus ein Zentrum für Schriftsteller wird. Heute ist er in Erfüllung gegangen. Ich bin sehr glücklich.“ Von der irischen Seite ist Macdara Woods ausgewählt worden, der ein paar Wochen in dem Haus verbringen wird. „Ich habe seit Jahren ein Gedichtprojekt im Kopf, das ich hier endlich verwirklichen will“, sagt Woods. Er teilt sich das Haus mit Tom Lablanc, der von der Heinrich-Böll-Stiftung als erster den Zuschlag erhielt. Lablanc ist Sioux- Indianer aus Arizona und schreibt Gedichte, in denen er die indianische Kultur vermitteln will. Berthold Langerbein von der Böll-Stiftung sagt: „Die Sioux sind vom Uranbergbau stark betroffen. Im September findet in Salzburg ein World Uranium Hearing statt. Lablanc wird in vier Wochen durch Europa reisen, um diese Veranstaltung bekanntzumachen. Dabei kommt er auch nach Chemnitz und Dresden.“
Von Heinrich Böll wird Ende des Jahres ein bisher unveröffentlichter Roman erscheinen: Der Engel schwieg. Im Kölner Böll-Archiv lagern noch Hunderte unveröffentlichter Arbeiten, von frühen Schülergedichten bis zu ganzen Romanen. „Das meiste stammt aus der Zeit zwischen 1946 und Anfang der 50er Jahre, als Böll anfing zu schreiben“, sagt Langerbein. „Darüber hinaus gibt es einen umfangreichen Briefwechsel. Während des Krieges schrieb Böll zweimal täglich an seine Frau — das sind über 2.000 Briefe. Daraus wird eine Auswahl erscheinen.“ Böll hat testamentarisch genau festgelegt, was veröffentlicht werden darf. Die Tagebücher gehören nicht dazu, auch nicht sein persönliches Irisches Tagebuch, seine Notizen, die die Grundlage für das teilweise fiktionale Buch bildeten.
Am nächsten Tag, dem Sonntag, ist Dugort wie ausgestorben. Nur Tom Lablanc, der Sioux-Indianer mit den langen, schwarzen Haaren, läuft über die nasse Wiese am Fluß entlang. Ob er sich an den Regen gewöhnt? „Der Regen ist hier absolut, großartig und erschreckend“, schrieb Böll im Irischen Tagebuch. „Man kann diesen Regen schlechtes Wetter nennen, aber er ist es nicht. Er ist einfach Wetter, und Wetter ist Unwetter.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen