: Voller obszöner Schönheit
Die iranische Künstlerin Mitra Tabrizian zeigt im Essener Folkwang Museum ihre erste Einzelausstellung. Im Kabinett sind drei Fotoprojekte über eine mögliche Zukunft zu sehen
VON PETER ORTMANN
Der Weg nach Klein-Utopia ist nicht gradlinig. Zweimal rechts, einmal links, die Treppe hinunter. So lautet die Anweisung im Essener Folkwang Museum, dann hat der Besucher sechs Quadratmeter einer möglichen Zukunft vor Augen.
Der erste Blickfang ist die größte aufgehängte Fotoarbeit der iranischen Künstlerin Mitra Tabrizian, die im fotografischen Kabinett ihre erste museale Einzelausstellung zeigt. Ein knallharter zentralperspektivischer Bildaufbau, in dessen Mittelpunkt das Wort „Exitus“ auf einem Kreisel-Gedenkstein steht, eingebettet in den Satz „Das Ziel des gesamten Lebens ist der Tod - Ruhe in Frieden.“ In der futuristischen, total durchdesignten Nachtwelt einer Finanzmetropole mit Vollmond scheinen Menschen auf den Betrachter zuzuströmen. Laptop- und Palm-User und, wie könnte es anders sein, zahllose Securityburschen. Alles wirkt statisch, leblos. Agieren da Puppen, Cyborgs oder geklonte Zombies? Ein Ledermantelmann mit Hund hat seine Hand verloren, das eiskalte Händchen flüchtet vor dem Tier, aus Ärmel und Handgelenk ragen Drähte, also doch Replikanten.
Mitra Tabrizian, die in London lebt, zeigt vordergründig eine Welt, wie sie irgendwann einmal sein könnte. Doch die promovierte Film- und Fotokünstlerin auf das Kürzel „was wäre wenn“ zu reduzieren, greift zu kurz. Ihre Arbeiten kreisen um Jean Baudillards Simulationsbegriff, den er Anfang der 80er formulierte und der bis heute diskutiert wird. Für den französischen Soziologen und Philosoph, der sich selbst als „theoretischen Terroristen“ bezeichnet hat, basiert die Realität auf Simulation. Alles, was der Mensch als solche wahrzunehmen glaubt, sei nur eine Abstaktion, weil er sich die Zeichen selbst erkäre. Die Realität werde formal nur simuliert. Eine mögliche maximale Simulation beschreibt zum Beispiel der erste Teil der Film-Trilogie „Matrix“.
Diesen Zusammenhang zeigt die Fotoserie „Jenseits der Grenzen“ (2000) von Tabrizian noch deutlicher. Eingefroren in Zeit und Raum werden Ungeheuerlichkeiten auf den Bilden auch hier von einer obszönen Schönheit verdeckt. Hinter einem polierten Glastisch steht ein Mann im dunklen Manageranzug und erschiesst sich. Kugel und Blut platzen aus der linken Schläfe. Jeder Tropfen ist scharf zu erkennen. Doch im Gegensatz zur historischen Vietnam-Aufnahme, auf der ein südvietnamesischer Kommandant den Kriegsgefangenen vor laufender Kamera erschießt, zeigt der sterbende Mensch auf Tabrizians Foto keine Regung.
Die Frau im Standbild läßt im selben Augenblick einen Säugling fallen. Er schwebt bereits zwischen ihren loslassenden Händen, wird vielleicht auf die Glasplatte prallen. Realität, Fiktion? Welche Kausalitäten herrschen zwischen den beiden Handlungen? Das wird nicht zu klären sein und ist auch nicht nötig, denn das Selbsttötungsprinzip, das in vielen Bildern der Serie auftaucht, kann keine Lösung bieten, selbst dann nicht, wenn ihre Realität nur simuliert wird.
Die zentrale Frage der Künstlerin mit ihrem orientalischen Hintergrund ist die nach dem Wesen der Zukunft und ihrer Gestaltungsmöglichkeit. Noch haben wir die Wahlmöglichkeit einer sterilen, oberflächenglatten Welt von Maschinenmenschen zu entgehen. Nicht mehr lange.
Museum Folkwang
Mitra Tabrizian
bis 7. März 2004
Infos: 0201-8845301