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Volkszorn über alles

Die laute Kunst des Vergessens  ■ K O M M E N T A R

Es ist widerlich. Da sickert irgendwo durch, daß ein kranker, 77jähriger Greis aus einer von einem barmherzigen Kirchenmann bereitgestellten Dachkammer in ein komfortableres Domizil überführt werden soll, schon bricht sich der sogenannte Volkszorn seine Bahn. Sicher, der Greis ist nicht irgendwer, er hat schwere Schuld auf sich geladen, seine einstige Macht in grober Weise mißbraucht und viel dazu beigetragen, daß das Land in jene bedrückende Lage geraten ist, aus der es wohl selbständig kaum noch herausfinden wird. Dafür wird er vor ein ordentliches Gericht gestellt werden. Aber - und wenn es noch hundertmal durchgekaut werden muß! - all das wäre doch ohne das aktive wie passive Mittun der meisten DDR-Bewohner nie und nimmer möglich gewesen! Wo war er denn, der ach so „gerechte Volkszorn“, als zu diversen Jubelfesten die SED rief und alle, alle kamen? Wo war er da nur geblieben, als hunderttausende an den fußbodenbeheizten Tribünen vorüberzogen und IHM zujubelten; Kindchen auf der Schulter, auf daß es IHN auch einmal zu Gesicht bekam - so richtig und leibhaftig? Alles nur erzwungen? Nur aus Angst vor der bösen Stasi „Hochhochhoch“ gerufen, und Fähnchen geschwungen? Daß ich nicht lache.

Honecker und seine Paladine haben sich schuldig gemacht. Und ihre Schuld besteht nicht so sehr in dem bißchen Wandlitz und dem bißchen Jagdrevier, sondern in ihrem Umgang mit den Machtlosen. Sie verfolgten Andersdenkende gnadenlos, ließen nur eine Meinung zu (die ihre natürlich) und scherten sich einen Dreck um Recht und Gesetz.

Nun wo der Potentat gestürzt ist, zeigt es sich, daß ihm seine einst doch so treuen Untertanen um nichts nachstehen. Nun würden sie ihn am liebsten lynchen.

Nun sind sie es, die einen macht- und wehrlosen demütigen; ihre (nicht mal von ihnen selbst errungene) neue Macht auskosten möchten bis zum Exzess.

Es ist schon seltsam. Gerade diejenigen, die am meisten unter dem alten Regime gelitten hatten, waren die ersten, die zur Gewaltlosigkeit mit den gestürzten Machthabern aufriefen. Und all die anderen, die devoten Ja-Sager von einst, die Biertischrevoluzzer, die sich früher erst nach dem zehnten Pils heimlich und hinter vorgehaltener Hand „Scheiß Staat“ zu sagen trauten - all jene zeigen nun einmal mehr, was wirklich in ihnen steckt; ach ja. Und das wohl vor allem deshalb, weil es ja so schön von der eigenen Mitschuld an den hiesigen Verhältnissen ablenkt.

Es ist widerlich, doch es paßt in die heutige politische Landschaft. Ein Stasi-Top-Agent, der schnurstracks der nächste Ministerpräsident werden wollte, ein CDU -Generalsekretär, der als ehemaliger Stasiinformant am liebsten gleich und sofort einen neuen inneren Geheimdienst installieren möchte und ein Volk („Wir sind das Volk“ hahaha), daß wohl nun auch das letzte Stückchen Anstand fallengelassen hat. Ein besiegter Gegner ist kein Gegner mehr - und wer sich an einem wehrlosen vergreift, ist nicht besser, als der schlimmste Despot.

Schämt euch!

Olaf Kampmann

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