Volksabstimmung in Ungarn: Schlappe für die Regierung
Mit deutlicher Mehrheit lehnt Ungarns Bevölkerung die neu eingeführten Gesundheits- und Studiengebühren ab.
WIEN taz Mit über 83 Prozent haben Ungarns Wählerinnen und Wähler am Sonntag die bestehenden Praxis- und Spitalsgebühren sowie die bevorstehenden Studiengebühren abgelehnt. Die Wahlbeteiligung bei der von der Opposition beantragten Volksabstimmung war mit 50 Prozent ungewöhnlich hoch. Damit ein Referendum in Ungarn gültig ist, muss jede und jeder vierte Wahlberechtigte den Fragen zustimmen. "Gut gemacht, Ungarn", triumphierte Viktor Orbán am Wahlabend. Der Chef der rechtspopulistischen Jungen Bürgerunion Fidesz wollte mit der Volksabstimmung auch die sozialliberale Regierung zu Fall bringen, verzichtete aber auf aufrührerische Appelle.
Drei Fragen waren zu beantworten, das Ergebnis voraussehbar. Seit dem Vorjahr müssen ungarische Patienten beim Arztbesuch umgerechnet 1,20 Euro zahlen. Auch beim Krankenhausbesuch ist diese Gebühr fällig. Die Studiengebühren sollten mit kommendem Wintersemester eingeführt werden. Am höchsten war die Ablehnung der Praxisgebühren, die Grundlage der Sanierung des defizitären Gesundheitswesens sein sollte. Premier Ferenc Gyurcsány, der nach der absehbaren Niederlage das Gesetz des Handelns wieder an sich zu reißen versuchte, kündigte nach Schließung der Wahllokale die Rücknahme der unpopulären Abgaben per 1. April an. Einen entsprechenden Gesetzesvorschlag habe er ins Internet gestellt. Eine Lawine von Zugriffen löste daraufhin den Kollaps der Homepage des sozialdemokratischen Regierungschefs aus. Massendemonstrationen, wie sie die Polizei befürchtet hatte, blieben allerdings aus. Vor dem Parlament in Budapest feierten zwar einzelne Grüppchen von Oppositionellen das Wahlergebnis, Zwischenfälle wurden aber keine gemeldet.
Gyurcsány, der seit dem Bekanntwerden seiner sogenannten Lügenrede vor anderthalb Jahren immer wieder Ziel teils gewalttätiger Protestdemonstrationen ist, sieht vorerst keinen Anlaß zum Rücktritt. In der umstrittenen Ansprache vor Parteifreunden im Juni 2006 hatte er zugegeben, das Volk im Wahlkampf über den miserablen Zustand der Wirtschaft belogen zu haben. Vor den Wahlen war daher auch von den strengen Reformpaketen keine Rede, die dann bald nach den Wahlen ausgeheckt wurden. Gesundheits- und Studiengebühren waren Teil dieser Sanierungsbemühungen.
Viktor Orbán, der schon bei dem Kommunalwahlen vor einem Jahr triumphierte, hat zwar auch kein Rezept, wie die leeren Kassen gefüllt werden können. Doch er hätte beste Chancen auf das Amt des Premiers, wenn heute gewählt werden würde. Allgemeine Wahlen stehen aber erst in zwei Jahren an.
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