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Village VoiceLeningrad Doo Rags go Konfetti

■ Diaspora gruften vor sich hin, Britannia Theatre machen Friedhofsmusik auf die eher fröhliche Art

Das Leben in der Diaspora ist nicht leicht. So wie Katholiken dort gern noch katholischer werden, entdeckt der eine oder andere gestandene Waterkant-Exilant auf einmal seine Roots. Fallen ihm dann großartige Platten wie „Över de stillen Straaten“ von Kurt Nolze oder „Rudt in't Land“ von Timmsen un sien Lüüd in die Hände, wird ihm warm ums Herz.

Doch was tun mit The Night before last von – genau! – Diaspora? Schneller, als du „Andrew Eldritch“ oder „Fields of the Nephilim“ buchstabierst, geht krächzend die große Gruftrockschublade auf und wieder zu. Nur das Gefiedel im Hintergrund erinnert an die guten alten Zeiten, in denen man New Model Army super finden konnte, weil The Cure immer kitschiger wurden. Wie die Kollegen von Exedra und den Dreadful Shadows gibt sich das Quartett, das bereits unter dem Namen „The Age of Necrophile“ immerhin zwei Demotapes mit den vielsagenden Titeln „Necropolis“ und, Überraschung, „Necrophobia“ auf die Reihe bekam, mit dem Sound mehr Mühe als mit dem Waschzettel.

O-Ton: „Die insgesamt eher sparsam gehaltenen Arrangements sind in einigen Keyboardstücken zu flächigen Klanggemälden verdichtet, die jedoch zu jedem Zeitpunkt entwirrbar und reproduzierbar erscheinen.“ Mal rockig-flockig, dann wieder grundsätzlich düster (gurgelt der Sänger mit Reißzwecken?) erzählen sie von Spaziergängen durch den Weltraum, schwarzem Verlangen, Verfolgungswahn und selbstmörderischen Tänzen – der nahezu klassische Gruftkanon also. Das klingt im Ergebnis an einigen Stellen schon recht rund, aber obligatorisch ist diese Scheibe höchstens für lokalpatriotische Darkwaver mit Sammelwut.

Denn die richtig gute Düsterdröhnung heißt aktuell „Phantoms of Future“ und kommt aus 44143 Dortmund. Angenehmer als in der Diaspora ist es sowieso in einem Mekka – und was das weite Feld zwischen Homerecording, Lo-Fi und incredibly strange music angeht, tut sich derzeit wieder einiges in der Stadt. Doch wo hört die Relevanz auf – wenn, wie gerade bei „Hausfrau im Schacht“ erschienen, Florian Dietz alias Joe Tabu vierspurig noch einmal Woodstock (ja, Woodstock!) einspielt, es als „Studentenfutter 96“ verkauft und im fotokopierten Booklet die Geschichte seiner Türharfe erzählt? Oder wenn die zwischen Easy und Electronic Listening pendelnde Teengum- Scheibe „Girls have long hair“ bisher nur als Pioneer-Selbstaufnahme-Rohling existiert?

Dagegen sind Britannia Theatre mit vier Jahren Bandgeschichte, einem Film, zwei Longplayern und zwei EPs fast schon eine Institution, obwohl sich auch die Auflage ihrer Red Traffic Lights locker im dreistelligen Bereich bewegen dürfte. Und auf eine sehr traurige Art ist das Sextett mit den seltsamen Instrumenten noch viel trauriger als manch gotischer Düsterkitsch. Stell dir vor, es ist Doo Rag, und Tom waits geht hin – „All my dreams have been washed down the drainpipe now / all my visions blown away by the wind / all my courage has been crushed in the ashtray / it seems a new day has begun.“ Das heißt dann „My Home“ und ist in der „Metro Version“, in der „American Version“ und zum Nachtisch als „String-Metro-Version“ erhältlich.

Ein Schuft, wer da nicht in sich geht, sich im Hinterzimmer verläuft und mit Konfetti in den Haaren aus dem Fenster fallen will. Anders gesagt: Hätten die Leningrad Cowboys sich ein paar Pogues geschnappt, ein paar Gallonen getrunken und gemeinsam als Friedhofskapelle in einem ungarischen Dorf angeheuert – so klängen sie nach der zehnten Runde. Und während irgendwer auf dem Dachboden das Cello zersägt, daß die Späne fliegen, steht drüben in der Küche auf einmal das Klavier aus dem Saloon der Daltons. Gunnar Lützow

Diaspora: The Night before last (TDP/pool)

Britannia Theatre: Red Traffic Lights (Mint Grün Platten)

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