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buchtippVielfalt

in Europa

Nationalstaaten basieren auf der Idee einer einzigen völkischen Identität und so könnte man meinen, der europäische Gedanken könne die Zukunft der seit Alters in Minderheitenenklaven siedelnden Ethnien sichern. Fünf Reisen führten den österreichischen Publizisten Karl-Markus Gauß in fünf der letzten Gebiete, die mehrheitlich von Menschen bewohnt werden, die schon immer aus dem nationalen Konsens ihres Staates herausfielen.

Er besuchte die Sorben in der Lausitz, die Sepharden von Sarajevo, die Aromunen in Mazedonien, die Arbëreshe in Kalabrien. Nach Jahrhunderten der Isolation und der Sanktionen mag ihre kulturelle Identität endlich aufblühen können. Zum ersten und letzten Mal in der Geschichte. Sie sind „die sterbenden Europäer“.

Zum Beispiel die Sorben: 1200 Jahr lang verteidigten sie verbissen ihr schon immer anachronistisches Dasein, überstanden das über Jahrhunderte wiederkehrende Verbot ihrer Sprache, ihrer Sitten. Selbst gegen den nationalsozialisischen Arisierungsterror konnten sie sich behaupten. Bekehrungsversuche ließen sie an sich abprallen. Ebenso die Zwangskollektivierung in der DDR. Dann kam die Wende, die Demokratie und mit ihr verschwand der Stifter der sorbischen Identität. Die Minderheit hatte keine Notwendigkeit mehr, Widerstand zu leisten. Nichts erzwang die Fortdauer ihres Zusammenhalts.

Zum Beispiel die Arbereshe. Ihre Geschichte begann 1468. Nachdem der Feldherr Gjergj Kastriota in Krieg gegen die Osmanen gefallen war, Albanien in Hunger und Gewalt versank, schwappte eine Flüchtlingswelle nach Unteritalien. Im entvölkerten Kalabrien durften die Albaner siedeln. 500 Jahre lebten sie in völliger Isolation, pflegten griechisch-orthodoxe Riten und ein urtümliches Albanisch. Bei ihnen leuteten die Verlockungen des internationalen Arbeitsmarktes das Ende ein. Die Emigration öffnete die Gemeinden. Im Miteinander mit den Italienern wurden sie von der Majorität im Land geschluckt. Gauß notiert viele Klagen. „Die Arbëreshe sterben schon in der nächsten Generation aus, sagte mir einer ihrer traurigen Intellektuellen.“

Bereits aus der Geschichte getilgt sind die Gottscheer Deutschen, deren Siedlungsgebiet im Süden Sloweniens Gauß nach sichtbaren Resten durchstreift. Wuchernde Wälder findet er, ein paar Fundamente, eine handvoll, die sich als Gottscheer bezeichnen, sonst nichts. Der Faschismus hat ganze Arbeit geleistet. Hitler erhielt nach Absprache mit Mussolini Handhabe über die Nachfahren der im 14. Jahrhundert aus Tirol und Kärnten eingewanderten Bauern und Krämer. Mussolini erhielt ihr Gebiet. 12000 der 13000 Gotscheer Deutschen kamen 1941/42 heim ins Reich und wurden assimiliert. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs erklärte Jugoslawien das Gottschee zu militärischen Sperrzone. Das letzte Tausend verlor sich. Heute scheint es, so Gauß, als hätte dort nie Menschen gesiedelt. MARTIN DROSCHKE

Karl-Markus Gauß: Die sterbenden Europäer. Wien (Zsolnay) 2001. 235 Seiten, DM 39,80

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