11. November 1989: Viel Verkehr
■ Fünf Jahre danach – eine taz-Serie
Ich durchschaue nicht mehr, was in diesem Land vorgeht. Mehrfach habe ich inzwischen die Bilder von der Schabowski- Pressekonferenz gesehen, die Szene mit dem hereingereichten Zettel, das Verlesen der kurzen Mitteilung – ich kann beim besten Willen nicht hören, daß Schabowski so etwas sagt wie „Heute Nacht machen wir die Mauer auf“ oder so ähnlich. Trotzdem werden plötzlich die Tore aufgemacht. Und hinterher will es keiner gewesen sein. Das ND tut so, als sei gar nichts passiert, alles normal, alles geplant. Das „Organ des Zentralkomitees der SED“ enthält sich jeden Kommentars, druckt lieber seitenweise die Reden der letzten Politbürositzung und auf der ersten Seite ein kleines Bild unter der Überschrift „Viel Verkehr an Grenzpunkten“.
Innenminister Dickel, nach dem Regierungsrücktritt eigentlich nur kommissarisch im Amt, spricht von „neuen Regelungen“, während es überall an den Grenzen chaotisch zugeht.
Am vergangenen Abend, als sich die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner im Westen tummelte, veranstaltete die SED ihre erste eigene Demonstration. Das neugewählte Politbüro hatte in den Lustgarten gerufen, und 150.000 kamen. Stimmen wie noch vor Tagen vorm ZK-Gebäude waren nicht mehr zu hören. Die Herren benahmen sich, als hätten sie dem Volk gerade einen Schnuller in den Mund gesteckt und könnten jetzt zur Tagesordnung übergehen. Obendrein mit der Aura von Wohltätern. Dabei ist die Stadt mit Wohltätern gerade jetzt reich gesegnet. Während sich die einen im Lustgarten beklatschen ließen, wurden vier andere auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses ausgepfiffen. Die Verhältnisse entgleiten uns. Wolfram Kempe
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