VfL Wolfsburg fordert FC Bayern heraus: Der etwas andere Verein
Wolfsburg hat keine Fußballtradition und trotzdem ist der Fußball hier wichtiger als anderswo. Wie tickt die VW-Stadt eigentlich?
WOLFSBURG taz Der erste Irrtum über Wolfsburg besteht darin zu denken, an einem Standort ohne Fußballtradition sei Fußball weniger wichtig. Ja, damals war das so, als Axel Bosse sich seine erste Dauerkarte kaufte, 1997. Da war der VfL Wolfsburg gerade zufällig aufgestiegen, und viele Wolfsburger wollten gern mal Bundesligafußball sehen, also die anderen Mannschaften. Aber heute ist der VfL im zwölften Jahr ohne Unterbrechung in der ersten Liga und zum ersten Mal ein echter Spitzenklub. Und Bosse, 57, Fraktionssprecher der Grünen im Stadtrat, hat seine zwölfte Dauerkarte. Der VfL, sagt er, sei "sehr stark identitätsstiftend für die Stadt, die außer VW kaum Identität entwickelt hat".
Wolfsburg, die Burg, hat eine lange Geschichte. Doch die Stadt, wir wissen es, wurde erst am 1. Juli 1938 gegründet, von Hitler als "Stadt des KdF-Wagens", des späteren VW Käfer. Sie entstand ums Werk und fürs Werk. Das Problem von Wolfsburg ist nicht Geschichtslosigkeit, sondern Vor-Geschichtslosigkeit. Die anderen konnten nach 1945 Momente ihrer helleren Vorgeschichte rauskramen, in Wolfsburg war nichts vor Hitler.
Heute ist Wolfsburg eine kreisfreie Großstadt mit 120.000 Einwohnern, doch weiterhin eher Teil des Werks als andersherum. Etwa 50.000 Menschen arbeiten direkt oder indirekt für VW in Wolfsburg. Bosse übrigens auch. Er ist in der VW-Produktanalyse beschäftigt, das ist eine Art Zukunftswerkstatt. Obwohl Wolfsburg in vielerlei Hinsicht wegweisend progressiv war, etwa 1993 mit der Viertagewoche (28,8 Arbeitsstunden) - zentral im kollektiven Bewusstsein sei ein "latenter Minderwertigkeitskomplex", sagt Bosse. Nicht nur gegenüber den Metropolen dieser Welt, was sich im permanenten Bau öffentlicher Gebäude berühmter Architekten ausdrückt, sondern sogar und gerade auch in Konkurrenz zur Nachbarstadt Braunschweig, die 1967 den deutschen Fußballmeister stellte.
Und dann fing es an, dass die Deutschen auf die Frage, was ihnen zu Wolfsburg einfalle, nicht mehr nur VW sagten. Dazu trugen zwei Dinge stark bei. Beim ersten Spatenstich der heutigen Arena verkündete ein VW-Manager: "Und ich sage euch, wir werden in fünf Jahren Champions League spielen." Das war 2001, und der Mann hieß Peter Hartz. Der Satz tauchte danach fast in jedem der Artikel oder Wortbeiträge auf, in denen sich jemand über Wolfsburg lustig machte. Der zweite Vorfall: Im Sommer 2002 wechselte der langjährige Weltklassespieler Stefan Effenberg vom FC Bayern nach Wolfsburg. Bald darauf ging er wieder. Mit den geflügelten Worten, nun werde es "wieder ruhig in Downtown Wolfsburg". Doch seither sagen die Deutschen: Wolfsburg? VW - und VfL. Es wurde dann umgehend ruhig um Effenberg. Und später dann auch um Hartz.
Am heutigen Samstag spielt der VfL Wolfsburg gegen den FC Bayern München tatsächlich um die Champions-League-Plätze. Der erfolgreichste deutsche Verein aller Zeiten und der scheinbare notorische Mittelmaßklub liegen vor dem 26. von 34 Spieltagen punkt- und torgleich auf Rang 2, einen Punkt hinter Tabellenführer Hertha BSC Berlin.
Es handelt sich nicht um ein Fußballwunder, sondern um eine ökonomisch unterfütterte Strategie. Die VfL Fußball GmbH ist - dank einer Ausnahmeregelung - zu 100 Prozent im Besitz der Volkswagen AG. Ein Werksklub war man immer, aber erst seit im Januar 2007 Martin Winterkorn Vorstandsvorsitzender wurde, ist der VfL Chefsache. Winterkorn ist Fußballfan. Seit Beginn der Saison 07/08 läuft unter Führung des ehemaligen Bayern-Trainers Felix Magath, 55, der Angriff auf das deutsche Fußball-Establishment. Viele haben es lange nicht mitgekriegt, weil der runderneuerte VfL in der Vorsaison erst am letzten Spieltag auf den fünften Tabellenplatz sprang und Magath sein nochmals verstärktes Team in dieser Saison lange im Windschatten der medialen Aufregung um 1899 Hoffenheim und Hertha BSC entwickeln konnte.
Magaths Erneuerung betraf übrigens das ganze Unternehmen. In den VfL-Büros in der Arena sitzen heute an den zentralen Stellen Magath-Leute, es assistieren ihm Magath-Leute, es spielen Magath-Fußballer. Magath ist Trainer und Sportdirektor in einem. Er kann wie die führenden Premier-League-Manager Ferguson oder Wenger agieren, und das offenbar nicht nur ohne Checks and Balances, sondern sogar ohne ein festes Jahresbudget. Das Modell des omnipotenten Machers fängt gerade an, die Bundesliga zu kitzeln. Bei Klubs mit klarer Philosophie und Marke macht es weniger Sinn, auf eine Stelle mit relativ hohem Durchlauf alle Macht zu verlagern. In Wolfsburg aber, wie früher in Freiburg (Finke), Mainz (Klopp) und teilweise in Hoffenheim (Rangnick), gab es keinen eigenen Fußballstil, keine klare Markenpositionierung: Da kann ein starker Entscheider viel entwickeln.
Ob Magath ein "Modernisierer" ist oder ein "Traditionalist"? "Was soll ich Ihnen da sagen", antwortet er auf eine solche Frage. Jedenfalls ist er definitiv kein Fußballphilosoph. Er lässt einen physischen, laufintensiven, schnellen Kombinationsfußball spielen. Für Bundesligaverhältnisse hat er inzwischen viele überdurchschnittliche Fußballprofis: Misimovic, Benaglio, Barzagli, Josue, Grafite, Dzeko, Schäfer und Gentner. Allesamt sogenannte "moderne" Profis: Sie funktionieren auf dem Platz und sind ansonsten leise. Nicht alle waren teuer, aber insgesamt wurden laut kicker in vier Schritten 60 Millionen Euro in 30 neue Spieler investiert. Der Unterschied zu den meisten Mitbewerbern besteht darin, dass das Geld von VW nicht refinanziert werden muss.
Das verärgert manche. "Es ist schon interessant", sagte unlängst Jürgen Klopp, inzwischen Trainer bei Borussia Dortmund, "dass 60.000 Arbeiter in Kurzarbeit geschickt werden, derselbe Vorstand aber ankündigt, dass er für den Profifußball nochmal richtig Geld nachlegen will." Die Kurzarbeit bei VW dauerte bisher eine Woche. Allerdings will Winterkorn bis Jahresende von 16.500 Leiharbeitern auf null kommen. Klopps Anspielung könnte also so verstanden werden: Arbeiter rausschmeißen, aber Fußballern teure Gehälter zahlen.
Klopp selbst lässt mitteilen, er wolle sich zu diesem Thema nicht mehr äußern. Da ist es vielleicht angebracht, die Wolfsburger Bundestagsabgeordnete Dorothee Menzner (Die Linke) einzuschalten. "Die Krise des Automobilbaus ist so eine umfassende Strukturkrise, da kommt es nicht auf einen zweistelligen Millionenbetrag in der Fußballförderung an", sagt Menzner. Und was das nahende Ende der Leiharbeit angehe, so könne man "den Konzernen nicht wirklich verübeln, dass sie das machen, was die Regierung ermöglicht hat". Menzner lebt im Landkreis Gifhorn, nordwestlich von Wolfsburg, ihre Söhne sind Fans von Hannover 96. Sie hat sich bei Genossen mit VfL-Dauerkarten umgehört. Was die Leute umtreibe, sei der Bestand des VW-Gesetzes, das Abbröckeln weiterer Arbeitsplätze und die Angst vor Porsche, "aber nicht, ob der VfL 50 Millionen abkriegt".
Das VW-Gesetz gibt dem Land Niedersachsen ein Vetorecht bei Konzernentscheidungen - auch wenn ein anderer wie Porsche deutlich mehr Anteile besitzt. Es schützt Wolfsburg. Ja, die Angst vor Porsche sei spürbar, sagt auch der Grüne Bosse. Die Investionen von VW in den Fußball seien im Vergleich minimal und stünden in keiner Relation zu Arbeitsplätzen. Im Übrigen würde sich auch keiner in Wolfsburg trauen, eine solche Diskussion anzuzetteln. Grundsätzlich sei in Wolfsburg im kollektiven Bewusstsein als normal verankert, dass VW Geld in die Gesellschaft investiert, sei es in die Autostadt, in bezahlbare Gastspiele von Kulturweltstars, in eine moderne Modellschule oder nun in Qualitätsfußball.
Oberbürgermeister Rolf Schnellecke ist nicht nur Aufsichtsrat beim VfL, sondern auch Vorstandsvorsitzender des Logistikunternehmens Schnellecke Group, das viel Geld durch Aufträge von VW verdient. Auch als 2005 publik wurde, dass SPD-Landtagsabgeordnete Arbeitsverträge mit VW hatten, war die Empörung in der Stadt eher mäßig. Unnormal ist hier nur jemand, der nicht von VW bezahlt wird.
Bosse kam mit 10 nach Wolfsburg und lebt seither hier, im Gegensatz zu Magath und den meisten VW-Managern. Er ist im Kunstverein aktiv. Gorleben-Veteran. Er weiß zu schätzen, dass die Sondersituation der Stadt auch "die Möglichkeiten innovativer Veränderung stark erleichtert". Tradition könne schließlich auch stark bremsend wirken. Ja, selbst ohne Viertagewoche sei Wolfsburg immer noch ein "relatives Paradies". Paradies in Anführungszeichen.
Die Absatzzahlen bei VW stimmen derzeit wieder, die staatliche Abwrackprämie hilft. Doch seit vergangenen Freitag sind Leiharbeiter vor einem Werkstor in Hungerstreik, um die Verlängerung ihrer Verträge zu erzwingen. Wenn sie heute die Bayern schlagen, wird ganz Deutschland Wolfsburg zum kommenden Meister erklären. Zumindest eine Woche lang.
Axel Bosse wird in Block 26 sitzen, Reihe 2, Platz 16. Ostseite, in der Nähe der Gästefans. Sein Sohn ist 25 und sitzt neben ihm. Seit man 1997 aufstieg, ist das bei den Bosses so Tradition.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren