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Verwässerte Wahrheiten

■ „Große Szene am Fluss“ – Tankred Dorsts Parabel über das Vergessen im Studio des Ernst-Deutsch-Theater aufgeführt

„Es sagt dir jemand, er war in Auschwitz, und ich sage: Ist das ein neuer Skiort?“ Ein namenloser Fluss in einem beliebigen Krieg. Im Wasser treiben Leichen, oder mal ein toter Hund. Die deutschen Söldner Speed und Osso lagern am Ufer. Ein Journalist betritt die fast beschauliche Szenerie. „Habt ihr Harko gekannt?“, fragt er, zeigt den beiden Kahlgeschorenen ein Foto: der zerschossene Kopf, daneben ein Zettel mit einem Gedicht. Dies lässt Budd, den russischen Journalisten, der einst die Freuden des real existierenden Sozialismus fotografierte, nicht mehr los. Was macht ein Poet freiwillig im Krieg? Was ist die Geschichte hinter dem Foto?

Antworten erhofft er sich von diesen Deutschen am Fluss. War doch Harko schließlich auch Deutscher. Doch die beiden reden nicht. Zunächst. Mit einer Mischung aus Trotz und Ignoranz sitzt Osso (Bruno Bachem) abseits. Fast dumm löffelt er eine Dose Thunfisch in sich hinein.

Unruhe bringt der neugierige Fragesteller in ihre kleine Szene am Fluss. Denkt Osso und will doch eigentlich nur Vergessen und über den Fluss schwimmen, denn dort ist sein Traumland: Kanada. Wo es nur Wälder gibt, der Frieden schlechthin. Kampfdogge Speed (Thomas Wenke) hingegen beginnt sein Spiel mit Budd. In Bruchstücken wirft er ihm die erhoffte big story vor die Füße. Um sich dann in Widersprüchlichkeiten zu verstricken. Ja, wir haben Harko hingerichtet. Nicht ermordet. Nein. Hingerichtet, denn er musste weg. Dann wieder: „Hast du das geglaubt?“ Begreift Budd, der Fremdkörper in der scheinbar inneren Logik des Krieges, einfach nicht?

Agressiver wird die Stimmung in dieser labilen ménage à trois. „Die einen sind gut, die anderen sind böse. Oder?“ So ist das doch im Krieg. Oder genau anders herum? Da ist die alte Frau, die sich nicht entscheiden konnte, auf welche Seite sie gehört. „McDonalds oder Halbmond“? Und die jetzt „frisiert“ in ihrem Haus liegt. Für Budd (Georg Münzel) stellt sich die Frage: was ist wahr? Ist die Wahrheit das, was man hinnimmt? Beginnt sie, wo der Widerspruch aufhört? Während Speed mit zynischer Lakonik über den Dingen zu stehen scheint, will Osso auf die richtige Seite des Flusses. Da fällt ein Schuss.

Sehr kompakt inszeniert Kai-Uwe Holsten sein Fronttheater nach Tankred Dorsts kleiner, aber feiner Buchvorlage am Ernst-Deutsch-Theater. So schnell wie die Hubschrauber, die akustisch über das Publikum hinwegjagen, ist die „Große Szene am Fluss“ schon vorüber. Vergessen und vorbei. „Erinnere dich!“, schreit Speed auf. Auschwitz, Wahrheit, Ethik. Alles vergessen. „Weiß gar nichts! Gar nichts! Stell dir das vor! Weiß nichts!“ Volker Peschel

12. und 13. Mai, 22.00 Uhr, Studio des Ernst-Deutsch-Theaters

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