Vertriebene Roma in Frankreich: Auf der Flucht vor den Bulldozern
Die Stadt Saint-Denis nördlich vor Paris ärgert sich über den Umgang der Regierung mit den Roma. Sie lässt vertriebene Familien ein neues Lager aufbauen.
SAINT-DENIS taz | Nur ein paar hundert Schritte vom Stade de France entfernt entsteht auf vier Parzellen im Norden von Paris zwischen Saint-Denis und Aubervilliers ein neues Roma-Lager. Einige Hütten sehen schon bewohnbar aus, ein großer Teil der Leute aber schläft noch in Igluzelten, wie sie die Hilfsorganisation Médecins du Monde sonst an Obdachlose verteilt. Daneben liegen diverse gefundene und eingesammelte Gegenstände und Möbelstücke, die noch verwendet oder weiterverkauft werden könnten. Ein junger Schwarzer stoppt sein Fahrzeug und ruft durch das geöffnete Autofenster von der Straße: "He, der blaue Sessel dort gehört mir!" Das sollte wohl ein Scherz sein, denn alle lachen. Ein junger Mann bringt eine tiefgefrorene Lammkeule und legt sie zum Auftauen an die Sonne. Die Campingromantik trügt, die Lebensverhältnisse hier sind äußerst prekär. Das Einkommen stammt aus ein bisschen Schwarzarbeit, dem wenig einträglichen Verkauf von Alteisen und Betteln.
Wie lange wird das Provisorium dieser kinderreichen Familien aus Rumänien dieses Mal dauern? Die Betroffenen zucken fatalistisch die Achseln. Die meisten der anwesenden Erwachsenen sprechen ohnehin nur "Romani", die von ihren Urahnen bei der langen Völkerwanderung aus Indien mitgebrachte Sprache, oder Rumänisch. Nur die Kinder und Halbwüchsigen können sich auf Französisch unterhalten. Sie reißen sich aber nicht darum, den Dolmetscher zu spielen, lieber tollen sie herum, sie haben noch Schulferien. Über den neugierigen Besucher in ihrer "Siedlung" machen sie sich lustig, eine der Größeren verlangt Geld für Bonbons. Sie heißt Bianca, ist 14 und sagt, sie sei in Frankreich auf die Welt gekommen. Vom Land, aus dem ihre Eltern stammen, weiß sie nur so viel, dass es dort für Roma weder Wohnung noch Arbeit gebe und dass es allemal besser sei, hier in Saint-Denis zu bleiben, wo sie wie die allermeisten Kinder dieser Roma-Familien den Unterricht besucht. Ihr Schulweg sei sogar viel kürzer als von ihrem früheren Camp aus, das am 6. Juli von der Polizei geräumt worden ist.
Allen Besitz verloren
"Die Leute wurden um sechs Uhr früh aus dem Schlaf gerissen", berichtet Coralie Guillot von der Hilfsorganisation Parada, die bei der Räumung zugegen war. "Sie haben vergeblich versucht, mit improvisierten Barrikaden Widerstand zu leisten. Alle wurden einzeln abgeführt oder weggezerrt. Sie haben alle Habseligkeiten verloren, weil die Bulldozer ihre Wohnwagen, Hütten und Zelte niedergewalzt haben." Die Beamten führten einen Befehl des Innenministers aus, der alle für illegal erklärten Lager abreißen und die unerwünschten Nomaden nach Rumänien und Bulgarien abschieben will.
Das beseitigte Lager im Quartier Hanul war eines der ältesten in der Region Paris. Von den 150 bis 200 Roma, die dort auf einem besetzten Gelände eines stillgelegten Gaswerks lebten, sind angeblich nur ganz wenige freiwillig nach Rumänien zurückgereist oder dorthin abgeschoben worden. Für alle anderen habe nun aufs Neue die Suche nach einem Ort, wo man sie toleriert, begonnen. An ihrer neuen Zufluchtsstelle will die Stadtbehörde, welche die repressive Regierungspolitik nicht billigt, ihnen eine Wasserleitung zur Verfügung stellen. Vizebürgermeisterin Florence Haye meint zuversichtlich, es müsse für diese Roma aus EU-Mitgliedsländern doch eine Alternative geben zwischen Abschiebehaft und einer Randexistenz im Slum. Eine ideale Lösung aber hat sie ebenso wenig wie der kommunistische Bürgermeisternachbar von Choisy-le-Roi: Er beherbergt 50 von der Polizei vertriebene Roma bis auf Weiteres in einer Turnhalle.
Als "Schandfleck auf dem Banner der Republik" verurteilte der frühere Premierminister Dominique de Villepin das Vorgehen der Regierung. Scharfe Kritik kam vom UNO-Komitee gegen Diskriminierung und Rassismus. Auch der Druck aus der EU wächst. Die schwedische Ministerin Birgitta Ohlsson schlägt Sanktionen gegen EU-Länder vor, die ihre Minderheiten schikanieren. Besonders zu schaffen machen die Ermahnungen der katholischen Kirche. Wie diverse ausländische Medien zog am Wochenende der Bischof von Toulouse einen Bogen von den heutigen Roma-Abschiebungen zu den antijüdischen Razzien unter dem Kollaborationsregime von Vichy während des Zweiten Weltkriegs. Er rief die Gläubigen zur Solidarität auf: "Die Roma sind unsere Brüder!"
Immigrationsminister Eric Besson erwiderte pikiert auf die Proteste, Frankreich müsse sich "keine Lektionen erteilen lassen". Mit Interventionen in Brüssel und bei einem informellen Treffen mit den Innen- und Immigrationsministern aus Deutschland, Italien, Spanien und Griechenland am 6. September möchte er den angerichteten Imageschaden für Frankreich begrenzen und für eine koordinierte Roma-Politik werben.
Außenminister Bernard Kouchner, wie Besson ein ehemaliger Sozialist, räumte ein, das Schicksal dieser Roma gehe ihm so sehr ans Herz, dass er - nur kurz - mit dem Gedanken eines Rücktritts gespielt habe. Keine solchen Gewissensbisse hat Innenminister Brice Hortefeux, er rechtfertigt sein gezieltes Vorgehen mit der verschärften Sicherheitspolitik: "Die Roma werden nicht ausgewiesen, weil sie Roma sind. Wir wenden nur das Gesetz an. Man besetzt nicht illegal und ungefragt Grundstücke. Es gibt bei uns keine Statistik über die Delinquenz bestimmter ethnischer Gruppen, aber die Zahl von Straftaten rumänischer Staatsangehöriger hat im letzten Jahr um 138 Prozent zugenommen", trumpft der Minister auf.
Vor Kurzem hatte Hortefeux angekündigt, dass bis zu 900 "illegale" Roma-Lager beseitigt werden sollen. Inzwischen weiß man, dass das keine leere Drohung war. Am Donnerstag wurden erneut mit zwei Sonderflügen 300 Roma nach Bukarest geflogen. Diese "freiwilligen" Heimkehrer erhalten eine Prämie von 300 Euro. Einige von ihnen sagten aber noch am Flugplatz, sie würden so bald wie möglich zurückkommen. Seit Jahresbeginn wurden laut Innenministerium 8.340 Roma abgeschoben, die Zahl von 9.000 im letzten Jahr dürfte bei diesem Rhythmus übertroffen werden. Das ist nach Meinung der Organisation Voix des Roms (Stimme der Roma) nicht nur inhuman, sondern eine völlig ineffiziente Augenwischerei: Das Innenministerium frisiere mit der Rückführung von Roma die Abschiebestatistik, um so die Öffentlichkeit zu beeindrucken.
Unbeeindruckt von solchem politischem Kalkül geben sich die Roma in Saint-Denis. Sie wollen sich in ihrem neuen Quartier so rasch wie möglich einrichten. Die Hoffnung, hier akzeptiert zu werden, haben sie ebenso wenig aufgegeben wie ihren christlich-orthodoxen Glauben. Via Dolmetscherin erklärt ein Familienoberhaupt, er träume davon, wie die Roma im Pariser Vorort Courbevoie im Lager eine eigene Kirche zu bauen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Machtkämpfe in Seoul
Südkoreas Präsident ruft Kriegsrecht aus
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Ineffizienter Sozialstaat
Geteilte Zuständigkeiten
Gesetzentwurf aus dem Justizministerium
Fußfessel für prügelnde Männer
Europarat beschließt neuen Schutzstatus
Harte Zeiten für den Wolf