Lage der Roma in Frankreich katastrophal: Ein Slum zwischen den Gleisen

Unweit des Bahnhofs von Lyon haben ein paar Romafamilien ihre Hütten aufgeschlagen. Sie leben dort ohne Wasser, Sanitäranlagen und Strom. Jetzt droht ihnen die Räumung.

Da die Notunterkünfte überfüllt sind, müssen viele Roma in Frankreich weiterhin unter erbärmlichen Bedingungen leben. Bild: reuters

LYON taz | Der Slum befindet sich mitten in Lyon in der Rue Paul Bert, nur wenige Straßen vom Hauptbahnhof und dem Geschäftsviertel entfernt. Auf einem kargen Geländestreifen zwischen den Bahngleisen reihen sich etwa zwanzig kleine Holzhütten aneinander. Sie sind alle auf dieselbe Art gebaut: Holzbretter, Paletten, Plastikplanen und alte Werbeschilder; alles was die Menschen finden konnten, verwendeten sie als Baumaterial. An jedem Dach ist ein metallener Schornstein angebracht, aus einigen qualmt schwarzer Rauch. Die Züge fahren direkt an dem Slum vorbei, doch da das Grundstück etwas tiefer gelegen ist als die Gleise, werden die Hütten von außen kaum wahrgenommen.

Die rund achtzig Bewohner, darunter viele Kinder, stammen vorwiegend aus Rumänien. "Die Menschen haben es sich nicht ausgesucht, zusammen zu wohnen. Sie haben alle unterschiedliche Hintergründe. Aber wenn man im Freien lebt, bietet die Gemeinschaft besseren Schutz", sagt André Gachet von der Organisation Alpil, die sich um Wohnungshilfen und Integration kümmert. Er unterstützt die Roma bei der Suche nach einer geregelten Unterkunft, denn jene mit einer Aufenthaltsgenehmigung haben das Recht, eine Sozialwohnung zu beantragen. Aber es ist ein mühsamer, bürokratischer Weg, den sich viele Roma nicht zutrauen, oft wissen sie auch gar nichts von ihrem Recht.

Während Gachet durch den regennassen, schlammigen Boden der Siedlung stapft, wird er von allen Seiten mit einem freundlichen "Bonjour" begrüßt. Ein paar Männer, die gerade dabei sind, Äste und anderes Holz herbeizuschaffen, winken aus der Entfernung herüber, während eine Gruppe Kinder neben den Gleisen spielt. Vor wenigen Tagen waren drei der Holzhütten bis auf den Grund abgebrannt. Unfälle wie diese kommen unter den miserablen Lebensumständen immer wieder vor.

Die meisten in Frankreich lebenden Roma kommen aus Rumänien und Bulgarien und rund fünfzehn Prozent aus den Ländern Ex-Jugoslawiens. Laut NGOs gibt es landesweit etwa 15.000 Roma, wobei die Hälfte von ihnen Kinder unter vierzehn Jahre sind. Sie fliehen vor Armut und Diskriminierung in ihrer Heimat, doch in Frankreich finden sie das erhoffte Eldorado nicht. Stattdessen verdienen sie ihr Geld durch Betteln und Musizieren auf der Straße oder in den U-Bahnen.

"Trotz der prekären Lebensumstände geht es ihnen in Frankreich oft besser als in ihren Heimatländern", sagt Alain Veysset vom Collectif Roms, einem Zusammenschluss französischer NGOs, die sich für die Roma engagieren. Er spricht von einer neuen Art der Migration, einer "Migration der Armen", die seit etwa zehn Jahren existiert. Als Europäer haben die Roma aus Rumänien und Bulgarien das gleiche Recht, frei herumzureisen wie andere EU-Bürger. " Doch in der Praxis wird leider unterschieden zwischen Europäern und Europäern", sagt Veysset.

Um in Frankreich dauerhaft bleiben zu dürfen, müssten die Roma finanzielle Sicherheiten vorweisen können, die ihnen meist fehlen. Hinzu kommt, dass für rumänische und bulgarische Staatsbürger bis voraussichtlich 2014 der Zugang zum Arbeitsmarkt der alten EU-Mitglieder begrenzt ist. Den Roma bleibt somit nichts anderes übrig, als schwarzzuarbeiten oder zu betteln.

Im Großraum Lyon gibt es laut NGOs etwa zwanzig Romasiedlungen. Die Wohnsituation ist katastrophal: Da es zu wenig staatliche Notunterkünfte gibt, hausen die Roma in provisorischen Siedlungen, die sie selbst auf brachliegenden Grundstücken errichten, oder sie besetzen leer stehende Gebäude. "Es handelt sich vor allem um wandernde Großfamilien, die sich zusammenschließen", sagt Veysset. Dadurch leben bis zu hundert Menschen in den Siedlungen. Meist fehlt es an Trinkwasser, es gibt keine Sanitäranlagen, und den Strom müssen sie von nahe gelegenen Stromkästen abzapfen.

Was die Lage noch erschwert, sind die regelmäßigen Zwangsräumungen der Siedlungen, wobei die Behörden den Menschen keine alternativen Unterkünfte anbieten. Die Menschen landen auf der Straße oder werden abgeschoben. Viele Romafamilien kehren nach wenigen Wochen wieder zurück oder bauen woanders ihre Siedlungen, bis sie auch von dort vertrieben werden. Es ist ein ständiger Kreislauf, doch von politischer Seite gibt es keine Anzeichen, eine langfristige Lösung finden zu wollen. "Diese Art von Politik ist menschenunwürdig!", meint Alain Veysset. "Man sieht doch, dass das zu nichts führt."

Dass der politische Wille fehle, das sieht Martine Elbahar nicht so. Sie ist in der Stadtverwaltung von Lyon für Nachbarschaftsangelegenheiten zuständig. Bei ihr laufen die Beschwerden der Bürger über die Romasiedlungen ein wie bei Ruhestörungen oder Müllablagerungen, die nicht entsorgt wurden. "Wir können nicht viel machen, uns fehlen die Mittel dazu", sagt sie sichtlich überfordert. Die Notunterkünfte seien bereits überfüllt, während der Bedarf ständig steige. "Wenn wir das Geld hätten, würden wir die Leute ja nicht unter diesen Umständen leben lassen", sagt Elbahar. Sie schiebt die Verantwortung an die Regierung weiter, denn es sei ein staatliches, ja europäisches Problem.

Da Räumungen im Vorhinein angekündigt werden, besteht theoretisch die Möglichkeit, diese noch durch einen Gerichtsbeschluss zu verhindern. "Was man bisher im besten Fall erreichen konnte, war nur eine Aufschiebung", sagt Frédérique Penot. Sie ist Anwältin und verteidigt seit sieben Jahren die Roma vor Gericht, wenn ihnen eine Vertreibung droht. "Es ist leicht zu sagen, dass sie sich illegal ansiedeln. Aber sie haben einfach keinen anderen Ort, wo sie bleiben können."

Seit vergangenem Jahr vertritt sie die Siedlung in der Rue Paul Bert. Erfolglos, denn die Siedlung zwischen den Gleisen muss nach einem Gerichtsbeschluss aufgelöst werden. Bis Ende des Jahres müssen die Bewohner, darunter viele Kinder, das Gelände verlassen haben.

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