Vertreibung aus Sudan: Die Straßen bei Einbruch der Dunkelheit verlassen
In Marokko werden sudanesische Asylbewerber gerne wieder zurück nach Algerien geschickt. Sie meiden deshalb die Polizei – und wollen eigentlich nach Europa.
Salih ist 20 Jahre alt und stammt aus Sudan, aus der Metropole Omdurman. Er möchte lediglich seinen Vornamen veröffentlicht sehen. Vor etwa einem Monat kam er in der Stadt an der marokkanisch-algerischen Grenze an. „Ich bin im Mai 2023 vor dem Krieg in Sudan geflohen, weil es um mein Überleben ging“, erklärt er mit ruhiger Stimme. Um seine Worte zu untermauern, zeigt er ein Video auf seinem Handy, das verkohlte Leichen zeigt. „Das war im Juni letzten Jahres, als sie einen Markt bombardiert haben“, fügt er hinzu. Seine großen schwarzen Augen sehen sanft aus – und verbergen das Martyrium, das er während seiner Reise von Sudan nach Marokko erlitten hat. „Ich bin mit dem festen Vorsatz nach Libyen aufgebrochen, Europa zu erreichen“, sagt er, „aber ich hatte nicht einmal die Chance, es zu versuchen.“
Schon bald hätten ihn Milizen festgenommen, zehn Monate habe er in Haft verbracht. „Ich ging durch die Hölle. Sie verlangten eine Kaution, die meine Familie nicht aufbringen konnte. Ich hatte großes Glück und konnte fliehen.“ Er flieht weiter, durch Algerien, bis nach Marokko. „Ich habe das Gefühl, meinem Ziel noch nie so nahe gewesen zu sein wie nun“, erklärt er und begrüßt seinen Freund Mohamed. Der ist 19 Jahre alt und stammt aus Nayla, einer Stadt im Westen Sudans. Er hat Ähnliches erlebt: „Die Situation in Libyen ist extrem gefährlich, ein Albtraum, und die Überfahrt ist unerschwinglich, 15.000 Dinar“, sagt er – etwa 2.900 Euro. „Woher soll ich das Geld nehmen? Ich bin hierhergekommen, um auf dem Landweg in die Enklaven Ceuta oder Melilla zu gelangen“, erklärt er.
Während die beiden sich unterhalten, geht die Sonne unter. Die einsetzende Dunkelheit ist das stille Signal für die Abreise. Wie jeden Abend, wenn es dunkel wird, ist es für die beiden an der Zeit, die Öffentlichkeit der Straßen zu verlassen. „Man sollte abends nicht dort herumlungern. Die Ordnungskräfte patrouillieren nachts und nehmen jeden mit, ohne Unterschied. Die Asylbewerberbescheinigung, die ich in der Tasche habe, ist wertlos. Vor einigen Tagen nahmen sie Dutzende Migranten fest, nur um sie nach Algerien zurückzuschicken. Unter ihnen waren auch sudanesische Asylbewerber“, sagt Salih, und schreitet eilig von dannen.
Dieser Text stammt aus einer Sonderbeilage der taz Panter Stiftung zur Vertreibung aus Sudan. Sechs Journalist:innen aus Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten hatte die Stiftung im Mai 2024 für einen Workshop nach Berlin eingeladen. Sie alle sind Expert:innen für das Thema, das die Wahlen in Europa bestimmt wie kein zweites: Migration. Mit den Teilnehmer:innen dieses Workshops und anderer Projekte der taz Panter Stiftung wurde die am 25. Oktober 2024 erschienene Sonderbeilage konzipiert. Sie soll ein Schlaglicht auf den vernachlässigten Sudankonflikt werfen – und zeigen, was er mit der Migrationspolitik Europas zu tun hat. Die Podiumsdiskussion der Workshopteilnehmer:innen Ende Mai in Berlin finden Sie hier, die im Rahmen des Workshops entstandenen Folgen des Panter-Podcasts „Freie Rede“ hier. Mit dem Workshop, der allein durch Spenden ermöglicht wurde, wollte die Stiftung Austausch und Vernetzung schaffen, um eine fundierte Berichterstattung über Migration zu stärken.
Bloß nicht auffallen
In der Stadt Oujda gibt es keine Flüchtlingslager unter freiem Himmel mehr. Es gab einmal zwei: Hinter der Universitätsstadt und unter der Brücke über den Fluss Oued Nachef. Dort hatten viele sudanesische Migranten Zuflucht gefunden, vor einigen Monaten wurden sie aufgelöst.
Nur diejenigen, die über finanzielle Mittel verfügten, erhielten Zugang zu Unterkünften, während ärmere Migranten andere Lösungen finden müssen. Salih und Mohamed bewohnen etwa eine verlassene Baustelle am Rande der Stadt. In diesem unfertigen Gebäude mit fensterlosen Betonwänden sind fast dreißig Personen untergekommen. Der Jüngste von ihnen ist 15 Jahre alt.
„Wir gehen in kleinen Gruppen hinein, um nicht aufzufallen und die Nachbarn nicht zu stören“, erklärt Salih. Es ist eine Unterkunft für die Nacht. „Bei Tagesanbruch sind wir schon wieder weg, um Arbeit zu suchen. Im Moment gibt es keinen Komfort, nur Kartons, die ich zum Schlafen auf dem Boden ausbreite, aber es ist erträglich, denn nachts sind die Temperaturen zu dieser Jahreszeit noch mild“, erzählt er.
Wie Salih und Mohamed versuchen Dutzende sudanesische Migranten, in der Hauptstadt der marokkanischen Region Oriental zu überleben. Was sie von anderen afrikanischen Migrantengruppen unterscheidet, ist ihre Präsenz im öffentlichen Raum. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sudaner kleine Jobs in der Gastronomie oder im Baugewerbe annehmen. Dass die sudanesischen Migranten dieselbe Sprache sprechen – Arabisch – und denselben Glauben – Islam – teilen, erleichtert es ihnen, sich zu integrieren. Salih hat in Oujda bereits einige Tage auf dem Bau gearbeitet. Auch abseits davon findet er sich zurecht: Bei der Beschaffung von Kleidung und Lebensmitteln konnte er bisher auf die Solidarität der Bevölkerung zählen.
Der Zustrom aus dem Sudan hält an
Zwar gibt es keine genauen Statistiken – da an der Grenze keine verlässlichen Daten erhoben werden –, doch laut Vereinen und Strukturen, die Migranten unterstützen, nimmt die Zahl der Sudaner im Land deutlich zu. „Es ist eine Tatsache, dass die sudanesische Bevölkerung, die früher sehr marginal vertreten war, erheblich zugenommen hat. In den letzten beiden Jahren sind mindestens 3.000 sudanesische Migranten durch die Gemeinde gekommen sind, und dieser Zustrom hält an“, sagt Youssef Chemlal, Mitglied der marokkanischen Vereinigung zur Unterstützung von Migranten in schwierigen Situationen (AMSV).
Salih, Sudaner in Marokko
Diese Feststellung wird auch von Pater Edwin, dem Leiter der im Stadtzentrum gelegenen Kirche Saint Louis, gestützt. „Unter den Menschen, denen wir unsere Hilfe anbieten, sind sudanesische Migranten die am stärksten vertretene Gruppe. Dieses Migrationsphänomen hat sich in den letzten vier Monaten intensiviert“, erklärt er. Und: In den letzten Wochen habe man viele Frauen und Kinder aufgenommen – „etwas, das wir noch nie zuvor gesehen haben“.
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