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Versuchsanordnung Armut

Rosetta von Luc und Jean-Pierre Dardenne zeigt nur das Nötigste  ■ Von Urs Richter

Das Gerüst seines Lebens muss sich das Mädchen selbst erläutern: „Du heißt Rosetta.“ – „Ich heiße Rosetta“ – „Du hast Arbeit gefunden.“ – „Ich habe Arbeit gefunden.“ – „Du hast einen Freund gefunden.“ – „Ich habe einen Freund gefunden.“ – „Du wirst nicht abstürzen.“ – „Ich werde nicht abstürzen.“ Mit niemand anderem kann das Mädchen Rosetta so sprechen.

Auch das Gerüst des Filmes Rosetta besteht aus diesen Erläuterungen. Über Rosettas Leben weiß der nie mehr, als sie selbst. Denn auch mit dem Film spricht das Mädchen nicht. Noch weniger spricht der Film über sie. Er kann sie begleiten. Er dokumentiert – kommentieren kann er nicht.

Rosetta ist Kino, wie es ungeschwätziger kaum denkbar ist: Das Gesprochene, die Anzahl der Einstellungen, die Charakterisierung der wenigen Figuren sind auf das Notwendigste eingedampft. Keine Offmusik ertönt, ein wackliges Schlagzeugsolo aus einem schäbigen Rekorder muss genügen. Der Film lebt durch Weglassen, seine Bewegung und sein Bewegendes entstehen in den Aussparungen.

Und nicht, dass Rosetta uns irgendetwas ersparte: die Geschichte vom arbeitslosen white trash im belgischen Niemandsland, die Geschichte vom bitteren Verrat einer Freundschaft, die Geschichte vom Vor-die-Hunde-gehen einer Persönlichkeit sind glasklar und glashart durcherzählt. Ohne Abtönung, ohne Sollbruchstelle.

Offenlassen und doch Beantworten – der Film erlangt diese seltene Balance in der Mitte zweier Erzählformen, in der Mitte zwischen subjektiver Perspektive und unbestechlichem Verhaltensprotokoll. Die Regisseure Luc und Jean-Pierre Dardenne haben Rosettas Leben in einer nahezu experimentellen Anordnung stets wiederholter Handlungen fixiert: Eine Betonröhre öffnen, die Stadtschuhe weglegen, die Gummistiefel hernehmen, die Betonröhre schließen, zum Wohnwagen gehen, die Fahrradflasche mit Wasser füllen, der betrunkenen Mutter die Schnapsflasche wegnehmen, einen Regenwurm ausgraben, den Zaun am Teich öffnen, durchkrabbeln, den Zaun wieder schließen, die Angelleine aus der Erde graben, den Haken ans Ufer ziehen, den Regenwurm aufspießen, den Köder in den Teich werfen, die Leine mit Erde abdecken, den Zaun öffnen, durchkrabbeln, den Zaun wieder schließen ... so lebt Rosetta. Und durch die Handkamera sind wir bei ihr.

Wie absichtsvoll arrangiert, wie künstlich diese leitmotivischen Wiederholungen auch sind, wir bleiben ganz nahe bei Rosetta, wir können ihre Haare riechen. Die Dardennes entscheiden alle stilistischen Fragen zugunsten glaubhafter Darstellung (wenn der Begriff nicht so heruntergewirtschaftet wäre: au-thentischer Darstellung). Die Kamera folgt der widerborstig-schönen Emilie Dequenne, ihrem Bewegungsdrang und ihrem Innehalten, ihren Ausbrüchen und ihren raren, aber bestimmten Blicken. Rastlos durcheilt sie ihren Tagesplan und kaum etwas rührt sich in ihrem Gesicht. Und dann, als sie den Jungen, der ihr Freund sein möchte, aus dem Job gemobbt hat und an seiner Statt hinter dem Imbisstresen steht – ist da ein kleines Lächeln, eine Zufriedenheit. An solchen Stellen rutscht man tiefer in den Kinosessel und gesteht, dass einen nicht nur das Dauerwirbeln der Kamera fertigmacht, sondern auch die Brutalität dieses Charakters.

Der Film Rosetta ist abhängig von dem Mädchen Rosetta. Das Mädchen Rosetta aber ist abhängig von einer Ordnung, die sie nicht selbst gewählt hat. Der Kontrollwahn über die Koordinaten ihres Alltags – Trinken, Essen, Wohnen, um die Mutter kümmern, Arbeit finden, einem Jungen begegnen (in genau dieser Reihenfolge) – ist Reaktion innerhalb einer filmischen Versuchsanordnung, die keinen Fehler verzeiht und keine Pause gönnt.

Die Versuchsanordnung heißt Armut. Rosettas Eigensinn, ihr unbedingter Wille kann diese Versuchsanordnung nicht sprengen. Das Nachgeordnetsein unseres Blicks entspricht daher dem Nachgeordnetsein von Rosettas persönlicher Freiheit. Gleichwohl lässt der Film keinen Zweifel aufkommen, wie sich ein Leben wie das von Rosetta ändern ließe.

Die Dardennes lassen keine Anzugträger auftreten, die den zynischen Slang des Neokapitalismus auf dem Ärmel tragen, keine Pfennigabsatz-bewehrten Stadtplanerinnen, die Wohnviertel „gesundsanieren“ und auch keine bärbeißigen Sozialarbeiter, die irgendwann auf den Tisch hauen und ein kleines Stückchen heile Welt bewahren. Was der Film an gesellschaftspolitischen Aussagen vorträgt, ist synthetisiert in der intimen Beobachtung eines Menschen, der sich zunehmend von seinen ureigensten Interessen entfremdet. Eine andere Wahl bleibt ihm nicht.

täglich, 20.30 Uhr, 3001

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