Verstorbener Schriftsteller Gustafsson: So unzeitgemäß, so gut
„Doktor Wassers Rezept“ heißt der neue Roman des nun verstorbenen schwedischen Autors Lars Gustafsson. Darin lief er zu großer Form auf.
„Hier gelten ungefähr dieselben Regeln wie bei der Elchjagd zu Hause. Geduld aufbringen, jede Menge Geduld, und dabei niemals die Aufmerksamkeit verlieren.“ Das sind schöne, weise Sätze aus Lars Gustafssons neuestem, gerade eben erschienenem Roman, „Doktor Wassers Rezept“, der, wie man am vergangenen Wochenende erfahren musste, zugleich sein letzter bleiben wird. Schön und weise sind die Sätze, weil sie in vielen Kontexten anwendbar sind.
Das Bezaubernde an den Büchern dieses Autors ist schon immer ihre Vielschichtigkeit gewesen. Dabei haben sie in der Regel keineswegs den Umfang und die Wucht der neuen Epik, die heute gängig ist. Siebenhundertseitenklötze waren von diesem Autor nie zu erwarten.
Zwar ist Gustafsson ein hinreißender Erzähler, aber er war nie so aufdringlich, uns derart in eine Geschichte einzuspinnen, dass wir „das Buch bis zum Ende nicht mehr weglegen können“, wie die Standardformel heißt. Von seinen Büchern kann man jederzeit aufblicken und dem eben Gelesenen noch einmal hinterherdenken, etwa den Regeln der Elchjagd. Dazu sind sie geschrieben.
Gustafssons Bücher haben wiederkehrende Leitmotive, und wir treffen in ihnen immer mal auf alte Bekannte, auch wenn sie vielleicht eine leichte Metamorphose durchlaufen haben. Was ihr Thema ist, lässt sich schwerer ausmachen.
Das ist für das heutige Buchgeschäft natürlich ein Unding, und in dieser Hinsicht ist Lars Gustafsson ein vollkommen unzeitgemäßer Autor. Die Verlage sind auf der Suche nach Themen, weniger nach Autoren. Klimawandel ist wichtig, Konsumgesellschaft, Umwelt, Familie natürlich in allen Facetten, soziale Brennpunkte, Abstiegsangst, Liebe natürlich, aber auch Demenz ist nicht zu vergessen.
„Flüchtlingskrise“ ist noch ganz neu, wurde aber auch schon bedient. Wer den Roman zum Thema schreibt, ist eigentlich egal. Sprache ist auch nicht so wichtig.
Was aber den echten Gustafsson-Leser – und das kann man hierzulande sein, seitdem seine Bücher von Verena Reichel ins Deutsche übersetzt werden, also seit mehr als 40 Jahren –, was den also bezaubert, das ist gerade das Unzeitgemäße. Was nicht heißen soll, Gustafsson sei nicht auf der Höhe der Zeit.
Vielmehr war er so umfassend gebildet, literarisch, mathematisch, geistes- und naturwissenschaftlich, dass der Begriff „Poeta doctus“ dafür gar nicht ausreicht. Und manchmal kann sogar dem echten Gustafsson-Leser diese umfassende Bildung ein bisschen auf die Nerven gehen. Dann aber ist es gerade wieder der spielerische Umgang mit all diesem Wissen, der uns bezaubert. Und nicht nur bezaubert, sondern auch erlöst von dem schrecklichen Gedanken, da sei einem doch noch einmal tatsächlich der Blick auf die Totalität gelungen.
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Hanser Verlag, München 2016. 143 Seiten, 17,90 Euro
Diesem neuen Hang zum Totalitären sind die Romane Lars Gustafssons strikt abhold. Dabei hat gerade er den maßgeblichen Romanzyklus über die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben, über das Erwachen und die Desillusionierung nach „68“.
Der war aber nicht von Anfang an so geplant, der ist ihm gewissermaßen nach und nach unterlaufen, in fünf Romanen, die von allem Möglichen erzählen, von den verheerenden Folgen der Tüchtigkeit wie vom Triumph der Mittelmäßigkeit, vom Hauptgefreiten Alexander Kluge wie von vertuschten Umweltskandalen, von Stockrosen und von Onkel Knutte. Nicht zu vergessen natürlich die beiden betrunkenen finnischen Matrosen. „Herr Gustafsson persönlich“, „Wollsachen“, „Das Familientreffen“, „Sigismund“ und „Tod eines Bienenzüchters“ heißen bekannte Romane von ihm.
Mofas frisieren
Der neue Roman erzählt von Doktor Wasser, und er wird auch von Doktor Wasser erzählt. Beides stimmt und stimmt zugleich nicht, weil Doktor Wasser aus Erfurt schon lange tot ist. Er hat mit dem Motorrad eine Kurve zu scharf genommen, da war er schon in Schweden. Dagegen ist Kent Andersson, der Dr. Wassers Identität angenommen hat und ohne Medizinstudium zu einem angesehenen Schlafforscher und Klinikchef geworden ist, ein Gewinner, wie er uns gleich im ersten Satz mitteilt.
Das klingt nach einem Aufsteigerroman, aber das wäre weit daneben, weil Kent Andersson, der zu Doktor Wasser wird, nie wirklich etwas plant, aber einen Blick für den günstigen Augenblick und seine Nutzung hat. Außer der Gunst des Augenblicks genießt er auch die Gunst der Frauen, was dem Leser an einzelnen Stellen wieder ein wenig auf die Nerven gehen kann.
Man könnte „Doktor Wassers Rezept“ einen Hochstaplerroman nennen, einen wesentlich substanzielleren als Thomas Manns Fragment über Felix Krull. Wenn es einen entscheidenden Moment im Leben Kent Anderssons gibt, dann ist es der, in dem er erkennt, dass er intelligent ist. „Ich dachte viel darüber nach, wie ich dieses Talent würde nutzen können. Damit war ich ziemlich allein. Dort, auf der anderen Seite des Sees.“
Kent kommt nämlich nicht gerade aus einem begünstigten Milieu. Er ist ein – allerdings glücklicherer – Wiedergänger des Jungen aus dem Roman „Wollsachen“, der ein bisschen Geld mit dem Frisieren von Mofas verdient und ansonsten ein Mathematikgenie ist, was aber nur seinem Mathematiklehrer auffällt.
Im Schulsystem sind Genies natürlich störende Elemente, und so kommt es, dass der Junge beim Schnüffeln mit Farbverdünnern nicht aufpasst und stirbt. Auch sein Lehrer, der ihn fördern wollte, kommt zu Tode, weil er von einem Lastwagen überfahren wird, dort in Trummelsberg.
Kent Andersson, der aus derselben Gegend kommt, hat ebenfalls einen Lehrer, der ihn fördert. Er ist kein Mathematiker, sondern Werklehrer, und heißt auch nicht Lars Herdin, sondern Lars Fredin. Er bringt seinem Schützling nicht nur handwerklich sauberes Arbeiten bei – wofür dieser sein Talent schon bewiesen hat –, sondern erzählt ihm zum Beispiel „Geschichten von merkwürdigen verschwundenen Kulturen, die möglicherweise viel mehr gewusst hatten als wir. Aber worüber?“
Kents Weg nach der Schule führt über die Arbeit in einer Reifenfirma und den Job als Fensterputzer in die Medizin. Das erscheint nur auf den ersten Blick sehr unvermittelt, hängt aber mit der Suche nach einem geeigneten Schlafplatz für Fensterputzer im Rahmen eines Großauftrags zusammen und damit, dass „ich ein neues Talent an mir entdeckt hatte. Ich kann den Eindruck erwecken, in Zusammenhänge zu gehören, in denen ich eigentlich nichts zu suchen habe.“
Der Preis des Betruges
Das ist seine Kernfähigkeit. Wobei Doktor Wasser, das sei hier gesagt, sich ganz zu Recht nicht als Hochstapler fühlt. „Mein Beruf hatte zwar als Rollenspiel begonnen. Aber in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren war es eben mein Beruf geworden. Punktum. Niemals habe ich meine Stellung als Arzt oder Beamter missbraucht.“
Sein weiterer Aufstieg führt ihn nämlich zu einer Stellung gleichsam als Oberaufseher über die Psychiatrie im Lande. Sein offizieller Titel ist Generaldirektor.
Doktor Wasser beziehungsweise Kent Andersson ist viel zu intelligent, um an so etwas wie Identität zu glauben. Er weiß, dass es nicht gesund ist, zu stark darüber nachzugrübeln, wer man ist. Er weiß übrigens auch, dass Betrug – so nennt er ihn ganz offen – seinen Preis hat: „Etwas in meinem Leben hat – ohne meinen Willen oder gegen meinen Willen – systematisch darauf hingearbeitet, mich immer einsamer zu machen.
Ich habe keine Verwandtschaft mehr. Auch keine richtigen Freunde.“ Am Ende nimmt er einem schon todkranken Mann die Fürsorge für seinen ebenfalls todkranken Hund ab. Fünf Monate später stirbt dieser Hund. „Ich habe dafür gesorgt, dass dieser Hund ein angemessenes Begräbnis bekam. Er war möglicherweise der einzige Freund, den ich nie hinters Licht geführt habe.“
„Wir fangen noch einmal an. Wir geben nicht auf.“ So lauten zwei schlichte, weise Sätze aus dem „Tod eines Bienenzüchters“. Weitere Figuren neue Talente an sich entdecken lassen, selbst mit einem neuen Buch neu anfangen, das kann Lars Gustafsson nun nicht mehr.
Doktor Wasser ist gerade 80 geworden, als er seine Geschichte(n) erzählt. Lars Gustafsson wird nun so alt nicht mehr werden, der runde Geburtstag wäre am 17. Mai gewesen, und es ist sehr traurig, dass er am Sonntag gestorben ist. Von Gustafsson hätte man sich weitere unzeitgemäße Bücher gewünscht, selbst auf die Gefahr hin, dass er uns hinters Licht führt.
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