Verschwundene Geflüchtete weltweit: Tote, die nicht mal eine Statistik sind
Sie sterben im Meer oder in der Wüste, ohne dass ihre Leichen gefunden werden: Zehntausende Geflüchtete weltweit tauchen in keiner Statistik auf.
Während die Zahl der Migranten vor den Augen der Weltöffentlichkeit von einem zum nächsten Höchststand geklettert ist, bleibt die Zahl der Toten zu großen Teilen im Verborgenen. Zehntausende Menschen kommen um – oder sie verschwinden einfach während ihrer Reise und werden nie wieder gesehen. Sie ertrinken, sterben in der Wüste oder fallen Menschenhändlern zum Opfer. Und ihre Familien fragen sich, was ihnen zugestoßen ist.
In den meisten Fällen werden die Spuren nicht nachverfolgt. Schon zu Lebzeiten werden sie kaum gezählt. Und im Tod werden diese Menschen auch nicht erfasst – so als hätten sie nie gelebt. Eine Erhebung der Nachrichtenagentur AP kommt auf mindestens 56 800 Migranten, die seit 2014 ums Leben gekommen sind oder vermisst werden. Das ist fast mehr als doppelt so viel wie in der weltweit einzigen offiziellen Statistik der Internationale Organisation für Migration (IOM): Die Organisation, die den Vereinten Nationen untersteht, kommt mit dem Stichtag 1. Oktober auf mehr als 28 500 Menschen.
Die IOM-Statistik konzentriert sich vor allem auf die Todesopfer im Mittelmeer. Doch selbst dort bleiben die vielen Vermissten meist unberücksichtigt. Boote voll mit jungen Tunesiern und Algeriern, Kinder, die in den Wirren der Reise verloren gehen. Die AP erfasste beinahe 4900 Menschen, deren Familien berichteten, sie seien spurlos verschwunden. Darunter sind mehr als 2.700 Kinder, die von ihren Familien beim Roten Kreuz als vermisst gemeldet wurden.
Tote, die nie erfasst wurden
Von den Flüchtlingskrisen weltweit ist nach wie vor jene im Mittelmeer am schockierendsten sichtbar. Manchmal reisen die Migranten lediglich auf Floßen, völlig überfüllt und von einem kleinen Außenbordmotor angetrieben. Aber selbst größere Boote aus Holz – oft mit Hunderten Menschen vollgezwängt – sind kaum hochseetüchtig und kentern, wenn der Wind auffrischt.
Während sich die Stimmung in Europa zunehmend gegen Migranten wendet und sich immer mehr Länder abschotten, werden auch die Mittel knapp, um Programme zur Erfassung der Menschen zu finanzieren. Ein Beispiel: Als im April 2015 vor der italienischen Küste beim bislang schlimmsten Unglück mit Migranten im Mittelmeer mehr als 800 Menschen ihr Leben verloren, versprachen die Behörden in Italien, die Opfer zu identifizieren und ihre Familien zu finden. Gut drei Jahre später hat die neue populistische Regierung die Finanzierung für die Arbeit gestoppt.
Für Fälle wie den mit Arfaouis Freunden hat die tunesische Regierung keine offizielle Statistik. Und die Gruppe schaffte es nicht nahe genug an Europa, um die Aufmerksamkeit der dortigen Behörden zu erregen. So wurden Arfaouis Freunde niemals erfasst, weder als Tote noch als Vermisste.
„Wenn ich mit ihnen gegangen wäre, dann wäre ich jetzt verschwunden wie die anderen“, sagt Arfaoui. Er steht mit ein paar Freunden an der felsigen Küste. Alle haben mehr oder weniger konkrete Pläne, nach Europa zu gehen. „Wenn ich die Chance bekomme, werde ich es tun“, sagt er. „Auch wenn ich Angst vor dem Meer habe und weiß, dass ich sterben könnte. Ich werde es tun.“
400 beigesetzt, nur einer identifiziert
Neben ihm steht der 30 Jahre alte Mounir Aguida, der den Trip schon einmal gemacht hat. Damals trieb er 19 Stunden auf dem Meer, nachdem der Motor des Bootes ausgefallen war. Ende August wollte er es nochmals versuchen – zusammen mit sieben Freunden. Als er die Wellen spürte, sprangen er und ein anderer junger Mann in letzter Sekunde aus dem Boot. „Es hat sich nicht richtig angefühlt“, sagt er.
Von den anderen sechs Insassen hat man nie wieder etwas gehört – eine weitere Gruppe junger Männer aus Ras Jebel also, die im Meer verschwunden ist. Kein Wrack wurde gefunden, keine Schiffbrüchigen wurden gerettet, keine Leichen identifiziert – sechs junge Männer, die in keiner Statistik vorkommen.
Aber es sind nicht nur die einheimischen Jugendlichen, die aus Tunesien und in etwas geringerem Ausmaß aus Algerien fliehen. Beide Staaten sind auch Transitländer für Menschen aus anderen Ländern auf dem Weg nach Europa. In Tunesien gibt es mittlerweile einen eigenen Friedhof für nicht-identifizierte Migranten – ebenso wie in Griechenland, Italien und der Türkei.
Der arbeitslose Seemann Chamseddin Marzouk pflegt den Friedhof in Zarzis an der südlichen Küste Tunesiens. Seit der Eröffnung im Jahr 2005 wurden dort die sterblichen Überreste von rund 400 Menschen beigesetzt. Nur einer der Toten wurde identifiziert.
Marzouks Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer. „Ihre Familien denken vielleicht, diese Person ist noch am Leben oder wird sogar eines Tages für einen Besuch zurückkehren“, sagt er. „Sie wissen nicht, dass die, auf die sie warten, hier beerdigt sind, hier in Zarzis in Tunesien.“
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