Verletzter Polizist bei Nakba-Demo: Im Zweifel für Demoverbote
Ein verletzter Polizist versetzt Presse und Politik in Aufregung. Doch die Darstellung der Polizei lässt sich durch Videos nicht bestätigen.
Die Springer-Zeitung Welt titelte über die „Attacke“ mit einem Zitat von Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD), diese sei „nur als Mordversuch zu deuten“. Fast schon zurückhaltender schrieb die B.Z.: „Juden-Hasser treten Polizist in Klinik“. Im Text wird Stephan Weh, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Berlin zitiert: „Wenn ein Kollege in eine Menschenmenge gezogen und dort niedergetrampelt wird, mehrfach das Bewusstsein verliert, müssen wir von reinem Glück reden, dass er die Nacht überlebt hat.“
In der offiziellen Polizeimeldung hieß es: „Mehrere Gewalttäter in der Menge des Versammlungsgeschehens griffen gezielt einen Polizeibeamten an, brachten ihn zu Boden und traten massiv auf ihn ein.“
Doch zwei im Netz kursierende Videos lassen an dieser Darstellung Zweifel aufkommen. In einer ungeschnittenen Aufnahme eines Livestreams ist zunächst zu sehen, wie sich Demonstrant:innen und Polizisten der 24. Einsatzhundertschaft friedlich gegenüberstehen. Dann drücken sich Polizisten, darunter auch der später Verletzte mit der Dienstnummer BE24111, in die Menge, um eine Person herauszuziehen. Sie greifen einen Protestierenden mit rotem Schlauchschal, es kommt zum Gerangel. Die Umherstehenden haken sich ein, die Beamten schubsen und schlagen sie von sich weg.
Ein zweites Video zeigt, wie der betreffende Polizist, der zuvor beim Einprügeln auf Demonstrant:innen gefilmt wurde, in der Menschenmenge auf dem Festgenommenen kniet. Im Getümmel wird ein anderer Demonstrant von einem zweiten Polizisten auf den Beamten gedrückt. Für einen kurzen Moment verschwindet der kniende Beamte aus dem Blickfeld der Kamera. Kurz darauf taucht er wieder auf, schlägt mehrfach mit der Faust auf den Kopf eines Demonstranten. Dann zerrt die Einheit den Festgenommenen aus der Menge. Im Anschluss lehnt sich der offensichtlich verletzte Beamte an ein Polizeigitter. Kollegen nehmen ihn hinter die Absperrung, wo er zusammensackt.
Kein gezielter Angriff sichtbar
Die Szenen sind hektisch und nicht immer übersichtlich. Deutlich aber wird: Die Polizisten werden nicht in die Menge gezogen, sondern begeben sich selbst hinein – unter massiver Gewaltanwendung. Zu keinem Zeitpunkt ist zu sehen, wie Demonstrant:innen einen Beamten gezielt zu Boden bringen und auf ihn eintreten.
Polizeisprecher Florian Nath sagte, er gehe „stark davon aus“, dass jene Videos die Situation zeigen, in der sich der Polizist die Verletzung zugezogen hat. Die Beweise würden derzeit noch gesammelt. Bisher basiere die noch vor Ort gestellte Strafanzeige „auf der Wahrnehmung der eingesetzten Kräfte“. Bei der Auswertung des Materials sei darauf zu achten, dass sich der Angriff auch „in Sekundenschnelle“ ereignet haben könnte.
Die Generalstaatsanwaltschaft teilte der taz mit, sie ermittle wegen eines besonders schweren Falls von Landfriedensbruch und gefährlicher Körperverletzung. Über den Zustand des 36-jährigen Gruppenführers einer Hundertschaft wollte die Polizei aus Gründen der Privatsphäre keine Angaben machen. Es heißt, der Beamte sei noch nicht dienstfähig, habe das Krankenhaus aber verlassen. Mehrere Medien berichten von einer Fraktur am Arm und Prellungen am Oberkörper.
Koalition will ans Versammlungsgesetz
Angesichts des Vorfalls und der Berichterstattung darüber hat sich unterdessen eine politische Debatte entzündet. Der als Hardliner bekannte CDU-Innenpolitiker Burkard Dregger kündigte eine Verschärfung des Berliner Versammlungsrechts an. Dem Tagesspiegel sagte er: „Wir werden dem Missbrauch des Demonstrationsrechts Einhalt gebieten.“ Auch der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Martin Matz, stellte die Frage, ob ein Verbot der Versammlung, die im Vorfeld per Auflage auf eine stationäre Kundgebung beschränkt wurde, möglich gewesen wäre.
Der taz sagte Matz, man müsse sich anschauen, ob die im Gesetz gefassten Formulierungen für Versammlungsverbote „ausreichend sind oder ob sich die Versammlungsbehörde nicht getraut hat“, die Nakba-Demo zu verbieten – aus Angst vor einer Niederlage vor dem Verwaltungsgericht. In diesem Fall müsste man das Gesetz überarbeiten. Laut Matz habe es bereits im Vorfeld Anzeichen dafür gegeben, dass es auf der Versammlung „zu Gewalt und verbotenen Parolen“ kommen würde, etwa durch die Bewerbung durch das internationale Netzwerk der israelfeindlichen und in Deutschland verbotenen Gruppe Samidoun.
Der Senat hatte eine Überarbeitung des Versammlungsfreiheitsgesetzes im Koalitionsvertrag vereinbart. Eine Evaluation des vor fünf Jahren noch unter Rot-Rot-Grün beschlossenen Gesetzes wird für die kommenden Tage erwartet.
Kritik kommt vom innenpolitischen Sprecher der Linksfraktion, Niklas Schrader. „Bevor die genauen Umstände nicht aufgeklärt sind, verbieten sich Forderungen nach mehr Demonstrationsverboten“, sagte er der taz. Schon heute mache es das Versammlungsgesetz möglich, Beschränkungen für Demonstrationen zu erlassen.„Wichtiger wäre es, dass die Polizei konsequent eine Deeskalationsstrategie fährt, wie es auch etwa beim 1. Mai gelungen ist“, so Schrader. Bei Palästina-Demos greife die Polizei jedoch oft sehr früh und sehr gewaltvoll ein: „Da muss man sich fragen lassen, ob das nicht auch zur Eskalation beiträgt.“
Die Organisator:innen der Nakba-Demonstration klagen ebenfalls über Polizeigewalt. In einem Statement sprechen sie von einer „Falle“: Die Polizei habe den Protest bewusst eingekesselt, um die „Voraussetzungen für gewaltsame Unterdrückung“ zu schaffen. In mehreren Fällen hätten Polizist:innen keine Identifikationsnummern getragen, Demonstrant:innen seien noch im Gewahrsam geprügelt worden.
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