Verkehrswende per Handschlag: Zu Fuß ist Berlin die Hölle
Der Krieg zwischen Fahrrädern und Autos tobt seit Jahren auf Berliner Straßen. Wer dabei zuerst unter die Räder kommt: die Fußgänger:innen.
A ndere steigen ins Auto oder aufs Fahrrad, ich laufe lieber. Klar habe ich ein Abo für Bus und Bahn; wenn genügend Zeit da ist, bevorzuge ich aber das Laufen. Eigentlich. Die Stadt ist inzwischen nämlich voller Fahrzeuge. Buchstäblich – Zeugs zum Fahren. Nicht nur auf der Straße: Autos und Lkws, Mopeds und Motorräder, E-Roller, Fahrräder, Long- und Skateboards. Mobil ist schon lange nicht mehr nur das Telefon.
Vor ein paar Tagen erst hätte mich beinahe einer dieser Raser, für die der röhrende Auspuff sekundäres Geschlechtsmerkmal ist, beim Abbiegen erwischt, einen Hechtsprung später schnitt mich ein die rote Ampel ignorierender Radfahrer, zwei Schritte weiter musste ich auf dem Gehweg einer Horde Jungs auf E-Rollern ausweichen, die allem Anschein nach gerade ihren Erstkontakt mit Testosteron hatten.
2020 wurden in Berlin mehr als 2.000 Autos gestohlen, unfassbare 28.000 Fahrräder, warum bitte klaut denn niemand stattdessen diese verdammten E-Roller? Hinfort mit dieser lästigen Plage, die uns 2019 der Scheuer, Andi – damals noch als Bundesverkehrsrowdy – bescherte. Die meisten Autos und Fahrräder werden immerhin einigermaßen gesittet abgestellt, wieso liegen oder stehen E-Roller mitten auf dem Gehweg rum? Es parkt doch auch niemand seinen Wagen mitten auf der Straße. Keine Radfahrerin ihr Gefährt auf dem Radweg.
Knautschzone Kopf
Rowdytum im Verkehr ist zwar eher die Ausnahme, aber eine bedenklich hohe Anzahl Personen wird wiederholt zum Risiko für Passanten – und füreinander. Richtig „lustig“ sind zum Beispiel diejenigen, die um jeden Preis auf ihr Recht pochen. Koste es, was es wolle – sogar die eigene körperliche Unversehrtheit. Zum Beispiel Kamikaze-Radler, jene Spezies, die auch dann nicht abbremst, wenn sich ein Auto mit Karacho nähert und einem die Vorfahrt stiehlt. Im Notfall ist die Sache doch klar – für den Autofahrer ist der Wagen die Knautschzone, für Radelnde der unbehelmte Schädel.
Auf der anderen Seite jene auf jedes Recht pfeifenden Autofahrer, die den Radweg als Parkzone kapern. Radler:innen müssen auf die Fahrbahn ausweichen, geraten dabei schnell mal in jenen toten Winkel eines Lkws, in dem es auf der Straße auch tatsächlich tödlich enden kann. Die vom ADFC an Unfallstellen aufgestellten weißen Geisterräder sind beklemmende Mahnungen dafür.
Und die in den Kinderschuhen feststeckende Verkehrswende tut ihr Übriges: Bei gleichbleibender Fahrzeug- und Menschendichte bewirkt die Raumverknappung für Autos derzeit noch das Gegenteil von Verkehrsberuhigung. Beispiel Kottbusser Damm in Neukölln: Eine von ursprünglich zwei Fahrspuren ist nun Parkfläche, links davon fahren Autos, rechts Fahrräder. Neulich gab es dort einen Feuerwehreinsatz.
Der Rettungswagen konnte in keine Einfahrt ausweichen, weshalb sich der Verkehr bis zum Landwehrkanal staute. Es kam zu Tumulten, weil der Rückstau auf der Kreuzung dahinter dem Querverkehr im Weg stand. Da wirkt die Verkehrswende genauso beruhigend wie eine Line Koks bei einer Panikattacke.
The Walking Dead
Und na ja, mal Hand aufs Herz, wir Fußgänger sind doch auch nicht nur als potenzielle Opfer in der Verkehrshölle unterwegs. Als Antispießer, der ich zu sein behaupte, bin ich selbstverständlich auch Täter. Ich bin „the walking dead“, laufe bei Rot über die Straße, hänge gern mal auf Radwegen ab, starre aufs Handy, gehe dabei viel zu langsam bei Grün über die Fahrbahn, egal wie viele Abbieger deshalb in ungünstiger Position am Warten sind.
Aber: Ich gelobe Besserung! Und für den Sommer plädiere ich für einen Wechsel von Fahrlässigkeit zu mehr Gelassenheit beim Fahren – und, ööhm, für mehr Aufmerksamkeit (nicht nur) beim Gehen. Deal?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten