Verkehrsunfälle in Berlin: Weit weg von der Vision
Eine Statistik der Unfallkommission zeigt, wo in Berlin die meisten Menschen bei Verkehrsunfällen zu Schaden kommen. Ganz vorn liegt: Friedrichshain.
Die Liste wurde von einer anonymen AntragstellerIn über das Portal „Frag den Staat“ angefragt und von der Berliner Polizei übermittelt. Sie weist insgesamt 1.504 Örtlichkeiten aus, wo innerhalb der beobachteten drei Jahre jeweils mindestens 5 Unfälle mit sogenannten Personenschäden verzeichnet wurden.
Auf den ersten Plätzen rangieren hinter dem Frankfurter Tor die Anschlussstelle der A100 zur Seestraße an der Bezirksgrenze zwischen Charlottenburg und Mitte (482 Unfälle, davon 57 mit Personenschaden und 5 mit Schwerverletzten), die Kreuzung Alexanderstraße / Karl-Liebknechtstraße und Memhardstraße in Mitte (253/55/3), der Louise-Schroederplatz im Wedding (138/52/10) und die Kreuzung Otto-Braun-Straße / Mollstraße (406/52/3).
Die letztgenannten drei Orte befinden sich alle in Mitte. Danach folgen drei weitere Knotenpunkte in Friedrichshain-Kreuzberg: der Bereich rund um die Mehringbrücke über den Landwehrkanal und der Kreisverkehr am Kottbusser Tor in Kreuzberg sowie die Friedrichshainer Seite der Oberbaumbrücke.
An insgesamt 135 Kreuzungen kam es zwischen 2019 und 2022 zu Unfällen mit mindestens 20 Personenschäden, an 563 Kreuzungen waren es mindestens 10 verletzte Personen. Bei genauerer Betrachtung gibt es etliche Unfallschwerpunkte, die im „Ranking“ auf hintere Plätze rutschen, weil sie nicht als einzelner Knotenpunkt betrachtet werden. So kam es an den Einfahrten auf den Großen Stern rund um die Siegessäule zu insgesamt 780 Unfällen (98 mit Personenschäden, 7 mit schweren Verletzungen). Im Fall des Ernst-Reuter-Platzes waren es 701 Unfälle (52 mit Personenschäden und 7 mit schweren Verletzungen).
Weit weg von der Vision
„Trauriger Platz 1“, twitterte der im Bezirk direkt gewählte grüne Abgeordnete Vasili Franco am Dienstag über das Frankfurter Tor. Gegenüber der taz räumte er ein, dass Berlin „vom Ziel der Vision Zero bekanntlich noch weit entfernt“ sei – um dem näherzukommen, brauche es „ein ganzes Bündel von Maßnahmen: angefangen bei der Verkehrsplanung, über die Einführung von Tempo 30 auch auf Hauptverkehrsstraßen und die Verpflichtung zum Einbau von Abbiegeassistenten in Lkws bis hin zur konsequenten Ahndung von Verstößen“. Wer keine Strafe zu befürchten habe, so Franco, „der überlegt sich dann bei Gelb vielleicht, ob er noch mal extra das Gaspedal durchdrückt“.
Auf die Frage, ob in Berlin nicht die Grünen selbst die Verkehrswende in der Hand hätten, verwies Franco auf die Zuständigkeit des Bundes für Aspekte wie eine Reform der Straßenverkehrsordnung – und die unrühmliche Rolle, die die FDP dabei spiele. „Nicht nur der Zivilgesellschaft, sondern auch uns Grünen und auch Frau Jarasch geht die Verkehrswende zu langsam“, so der Abgeordnete. Am Frankfurter Tor, wo gerade ein Pop-up-Radweg verstetigt werde, „ist erst seit der Zuständigkeit der Grünen im Senat überhaupt etwas passiert. Ich bin überzeugt, dass wir die Partei sind, die am glaubwürdigsten für die Verkehrswende einsteht und die Vision Zero verfolgt.“
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Aber wie sieht der berlinweite Trend aus? Nehmen die Unfälle entsprechend dem Berliner Mobilitätsgesetz von 2018 mit seiner „Vision Zero“ ab? Laut dem Sprecher der Verwaltung von Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne), Jan Thomsen, sind die Zahlen im Zeitraum 2019–2021 stark durch das Pandemiegeschehen beeinflusst. Im Jahrzehnt davor allerdings „haben die Unfallzahlen mit Toten bzw. Verletzten teils stark geschwankt“. Der „eindeutig positive Trend aus den Jahrzehnten davor“, als die Zahlen konstant rückläufig waren, „ließ sich noch nicht verstetigen“.
Auch aus diesem Anlass erarbeite die Senatsverwaltung aktuell ein „Verkehrssicherheitsprogramm 2030, das die Vision Zero zum Ziel hat – wozu dann allerdings deutlich mehr gehört als der Umbau von Kreuzungen“.
Maßnahmen für mehr Sicherheit wurden laut Thomsen bereits an 73 Örtlichkeiten auf der Liste umgesetzt, bei etlichen weiteren befinde man sich in der Planungsphase. Hinzu komme die Tätigkeit der Unfallkommission, die Maßnahmen für jeden Knotenpunkt vorschlägt, an dem es zu tödlichen Unfällen gekommen ist – die tauchen gar nicht unbedingt auf der Liste auf.
Minimale Maßnahmen?
Scharfe Kritik an diesem Aspekt kommt vom Verein Changing Cities. Laut dessen Sprecherin Ragnhild Sørensen sind die Maßnahmen, die nach einem Unfall ergriffen werden, „oft minimal“. In vielen Fällen werde „trotz des Mobilitätsgesetzes die Leistungsfähigkeit der Kfz höher priorisiert als die Sicherheit des Umweltverbundes, also des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs“.
Sørensen sagte der taz außerdem, wenn über die Optimierung einer Kreuzung diskutiert werde, erfolge „NIE ein Blick ins Radverkehrsnetz, mit dem Ziel Änderungen den Standards des Radverkehrsplans entsprechend vorzunehmen. Die Chance, Kreuzungen tatsächlich sicherer zu machen, wird so vertan.“
Im Fall der schwer überschaubaren Doppelkreuzung am „Königstor“ zwischen der westlichen Spitze des Volksparks Friedrichshain und dem Straßenzug Greifswalder Straße / Otto-Braun-Straße, kommt es jedenfalls vom heutigen Mittwoch an zu einwöchigen Umgestaltungsarbeiten. Ende 2021 war dort eine Radfahrerin überfahren worden, noch unter der letzten Verkehrssenatorin Regine Günther wurde mit ersten Maßnahmen wie Neumarkierungen begonnen.
Grundlage für die anstehenden Arbeiten sind ebenfalls Untersuchungen der Unfallkommission. Laut Jarasch-Sprecher Thomsen handelt es sich bei dem Knotenpunkt eigentlich von den Zahlen her nicht um einen Unfallschwerpunkt. Ein Umbau der Ampeln und eine Neuverteilung des Straßenraums sei aber auf der großen Fläche mit vielen Fahrstreifen empfohlen worden, um künftige Konflikte zu vermeiden.
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