Verkauf „entarteter Kunst“ im NS-Regime: Der Raub der 20.000 Bilder
Vor 85 Jahren begann der Ausverkauf „entarteter Kunst“. Gertrud Werneburg arbeitete als Hehlerin. Die taz veröffentlicht, wie sie sich rechtfertigte.
E in drei Meter hohes Kruzifix des Bildhauers Ludwig Gies war das erste Kunstwerk, das die Besucher vor 85 Jahren bei der Eröffnung am 19. Juli 1937 in den Münchner Hofgartenarkaden zu sehen bekamen. Unter dem Gekreuzigten stand: „Dieses Schauerwerk hing als Heldenehrenmal im Dom zu Lübeck.“
Das stimmte zwar nicht, aber der Ausstellung „Entartete Kunst“ ging es nicht um Genauigkeit, sondern um eine möglichst große Diffamierung der über 700 Kunstwerke von mehr als 120 Künstlerinnen und Künstlern. Moderne Kunst galt im NS-Staat als „jüdisch-bolschewistisch“, „undeutsch“, als „entartet“. Mehr als zwei Millionen Besucher wurden bis Ende November durch die Münchner Propagandaschau geschleust, dem die „Große Deutsche Kunstausstellung“ gegenübergestellt wurde. Später wurden die geschmähten Werke auf einer Wanderausstellung im ganzen Reich präsentiert.
Parallel zu der Münchner Ausstellung lief von August bis November 1937 in allen staatlichen Museen des Deutschen Reichs eine Säuberungsaktion, bei der über 20.000 Kunstwerke beschlagnahmt wurden. Sämtliche Gemälde, Zeichnungen, Grafikmappen, Drucke, Plastiken etc. ließ das Reichspropagandaministerium ab dem Herbst 1937 in einem Depot in der Köpenicker Straße 24 a in Berlin-Kreuzberg einlagern. Mit dem „Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst“ vom 31. Mai 1938 erhielt der staatliche Raub nachträglich seine Legalität, mit der die Kunst „verwertet“ werden konnte.
Ab dem 1. September 1938 wurden zunächst 175 Ölgemälde, von denen sich die NS-Funktionäre Devisen versprachen, im Schloss Schönhausen in Berlin ausgesuchten Kunsthändlern angeboten. Später ging die Zahl der Werke in die Tausende.
Der evangelische Kunstdienst, ursprünglich gegründet, um moderne Kunst in Kirchen zu etablieren, diente sich dem Propagandaministerium für die „Verwertung“ an, seine wichtigste Mitarbeiterin: Gertrud Werneburg, geboren 1902 in Thüringen.
Hans Prolingheuer und Jürgen Rennert haben 1991 mit Werneburg über ihre Arbeit als Verkäuferin „entarteter Kunst“ im Berliner Schloss Schönhausen 1938/39 gesprochen.
Gertrud Werneburg berichtet über ihre steile Karriere
„Ich habe 1938 in Leipzig eine Ausstellung „Deutsches Wohnen“ gemacht und dann habe ich wieder im Reichsstand des deutschen Handwerks (in Berlin, d.Red.) gearbeitet. Und einen Tag vor Pfingsten kommt Gotthold Schneider (Leiter des evangelischen Kunstdienstes, 1899-1975, d.Red.) da rein und sagt: ‚Fräulein Werneburg, wir haben eine japanische Ausstellung im Schloss Schönhausen, könnten Sie die nicht übernehmen? (…) Wir brauchen so dringend jemanden. Kommen Sie doch morgen mal raus. Da ist ein Konzert bei uns.‘ Ich bin am ersten Pfingsttag 1938 rausgefahren. (…) Und ich kam da rein. Das Schloss, es war ein solcher Traum für mich, dass ich das nie vergessen kann, eine herrliche Rokoko-Treppe. Und da perlte die Musik von Bach so runter. Da dachte ich, hier muss ich hin, hilft alles nüscht. Ich habe erst mal die japanische Ausstellung übernommen, eine bildschöne Ausstellung.“
„Und eines Tages, am 1. September 1938, kam Gotthold Schneider und sagte, ich bringe Dr. Hetsch (Rolf Hetsch, Kunsthistoriker aus Goebbels' Propagandaministerium, 1903-1946, d.Red.) mit. ‚Würden Sie nicht hier draußen 175 Ölbilder übernehmen? Das ist die Entartete Kunst, Verkauf ans Ausland, eine geschlossene Ausstellung. Sie übernehmen die hier allein.‘ Ich sagte, ich kann weder Schreibmaschine noch Steno, also nur mit Sekretärin. Ich habe angefangen mit diesen 175 Ölbildern, aus denen allmählich 6.000 wurden. Oder 7.000. Ich habe sie nicht gezählt. Unentwegt kam Knauer (Spediteur Gustav Knauer, Berlin, d.Red.) angefahren und brachte neue Bilder. Und dann kamen Aquarelle, und die ganzen Brückeleute, also von Marc bis Rohlfs, von Kirchner bis Dix. Dann kamen die Lehmbrucks. Die Bilder kamen von der Köpenicker Straße (in Berlin-Kreuzberg, d.Red.). Da waren die ganzen Bilder, die aus Museen beschlagnahmt worden sind. Es sind wohl 15.000 ungefähr gewesen.“
„Und dann kam unentwegt irgendein Kunsthändler, aus Norwegen, Oslo (vermutlich Harald H. Halvorsen, der Gemälde von Edvard Munch erwarb, d.Red.), und der Gurlitt (Hildebrand Gurlitt, 1895-1956, d.Red.) und die ganzen Leute waren nun laufend da und suchten sich Bilder aus. Ich hatte zwei große Räume, da hatte ich die Bilder alle angeschichtet, da waren beispielsweise sechzig Rohlfs. Na ja, und so habe ich eben verkauft. Und das Geld ging dann alles ans Propagandaministerium, Herr Dr. Hetsch saß auch beim Propagandaministerium. Wir waren natürlich bestrebt, so viel wie möglich zu verkaufen, weil wir uns sagten, am Schluss werden die doch verbrannt. Also so viel wie möglich zu verkaufen, nur gegen Dollar, nach Amerika, an den Valentin (Curt Valentin, deutsch-amerikanischer Kunsthändler, 1902-1954, d. Red.) und nach Stuttgart und überall hin. Na ja, das war eine herrliche Tätigkeit.“
Hans Prolingheuer: Die Preise waren vorgegeben?
Gertrud Werneburg: „Das haben die dann im Propagandaministerium gemacht. Ich hatte mit Preisen nichts zu tun. Ich habe nur gehandelt. Und am Schluss haben sie (Abteilung im Propagandaministerium, d.Red.) sie nahezu verschenkt, weil sie eben Dollar haben wollten. Und die (Kunsthändler) haben gesagt, wenn wir einen Dollar oder vier Dollar geben, kriegen wir auch ein Bild. Da haben sich Leute bereichert, ich kann Ihnen sagen, die haben alle Geschäfte gemacht. Ich wollte nichts damit zu tun haben und ich hatte auch nichts damit zu tun. Mir haben später Leute erzählt, wie sie die Bilder für Pfennige gekriegt haben. Ein Herr, der hat einen Feininger gehabt, den hat er später für 200.000 Mark verkaufen können. Er hat mir selbst erzählt, dass er sich ein Haus dafür in Westdeutschland gekauft hat.“
„Ich habe mal Noldes heimlich reingelassen, durfte ich ja an sich nicht. Die Noldes (Emil Nolde und Ada Nolde, geb. Vilstrup, d.Red.) wohnten im Winter immer in Berlin. Mein Hausmeister lässt die also rein, er musste immer Angst haben, wenn da jemand reinkam. Ich habe sie in mein Büro gelassen, und sie hat aus einem Buch (vermutlich die Nolde-Biografie, d.Red.) ihre Lebensgeschichte vorgelesen, dass ihr Mann doch so für Hitler wäre und dass er aus der (Künstlervereinigung) Brücke ausgetreten wäre. Ob ich nicht was tun könnte, damit seine Bilder da aus dem Lager rauskämen. Was soll ich dazu sagen? Ich habe die Leute bewirtet und habe sie abgelenkt. Er sagte kein Wort, und sie saß neben mir und las mir alles vor. Er war nur entsetzt, dass seine Bilder da hingen. Ich habe sie ihm gar nicht gezeigt.“
Hans Prolingheuer: Sie konnten mit Ihnen nicht in das Lager gehen?
Gertrud Werneburg „Sie haben gar nichts gesagt, dass sie reingehen wollten. Ich sollte versuchen, die Bilder wieder rauszukriegen.“
„Und dann kam Frau Lehmbruck (Anita Lehmbruck, geb. Kaufmann, Witwe von Wilhelm Lehmbruck, d.Red.), die kam mit ihrem Sohn. Die kriegte Sachen zurück, weil Goebbels persönlich sich dafür eingesetzt hat. Und mit Frau Lehmbruck, da kam Doktor Hetsch und der Herr Ranft (Günter Ranft, Maler, Mitarbeiter im Kunstdienst, 1901-1945, d.Red.) mit raus. Da standen wir mit Frau Lehmbruck und guckten die Sachen an und einer sagte: ‚Das sind also die Sachen hier. An diesem, da ist hier vorne was abgeschlagen, das muss erst gemacht werden.‘ Der Doktor Hetsch sagte: ‚Gnädige Frau, ich rate Ihnen, lassen Sie die Sachen so schnell wie möglich abholen!‘“
„Eines Tages wird der Arzt vom Führer, der Brandt, mir angemeldet. Und da kommen drei SS-Leute und der Brandt in Uniform. Ich wusste 1938 noch nicht, wer Dr. Brandt war (Karl Brandt, Mediziner, ab 1934 Hitlers chirurgischer Begleitarzt, 1947 hingerichtet, d.Red.). Ich hatte in meinem Büro das große Bild von Dix hängen, dieses Krüppelbild. Das ist verschwunden bis heute. Kommt der Brandt also rein und fragt: ‚Finden Sie das Bild nicht großartig?‘ Ich denke, jetzt kommt eine Kontrolle von der SS, was sollte ich anders denken? Ich sagte in so einem Fall immer klugerweise: Ja, es ist gut gemalt. Das kann man ja sagen, ist ja keine Beleidigung. ‚Dieses herrliche Bild‘, sagte der Brandt, ‚ich werde meinem Führer sagen, dass der das sofort aus der Ausstellung rausnimmt. Das müssen Sie doch selber auch einsehen?‘ Ich kann Ihnen sagen, ich wurde schamrot. Ich dachte, bloß raus! Na ja, er ging wieder. Das Bild ist nie rausgekommen und ist nicht verbrannt worden. Es hat bis zuletzt bis Pfingsten 1939 in meinem Büro gehangen.“
„Ich musste vorsichtig sprechen. Wenn mir jemand sagte, wie der Luzerner Herr Fischer (Theodor Fischer, Luzern, Kunsthändler, 1878-1957, d.Red.): ‚Fräulein Werneburg, Sie sind die Einzige, die mir helfen kann. Ich handle ja mit anderen Bildern, mit alten Bildern. Ich verstehe ja nichts von diesen Bildern. Helfen Sie mir bloß! Na ja, in zehn Jahren wären Sie glücklich, wenn Sie die Bilder noch hätten.‘ Ich sagte kein Wort. Ich sagte, wissen Sie, ich stehe hier vom Propagandaministerium. Erzählen Sie mir so was doch gar nicht, das ist doch unsinnig. Ich kann Ihnen nichts dazu sagen. Ich stelle Ihnen die Ausstellung zusammen, aber kein Wort über irgendwas. Das konnte ich doch gar nicht. Wir konnten doch gar nichts sagen. Und am 30. Juni 1939 kam die große Ausstellung in Luzern. Die habe ich zusammengestellt für den Fischer aus Luzern, eine große Auktion. (Bei der Auktion gingen Werke von Chagall, Liebermann, Corinth, Nolde, Barlach, Gauguin, van Gogh, Matisse, Picasso, Kokoschka u.v.a. über den Tisch.)“
„Ich bin nicht dabei gewesen“
„Und jetzt kommt immer diese furchtbare Frage, ob ich es beschwören kann, dass die Sachen verbrannt worden sind? Ich bin nicht dabei gewesen. Ich bin zur Köpenicker Straße beordert worden und habe dort alle Nummern aufgeschrieben von den Sachen, die (später) verbrannt wurden. Stellen Sie sich vor, wenn Sie 8.000, 7.000 Sachen aufschreiben müssen. Ich habe die Liste aufgeschrieben, aber ob es verbrannt worden ist? Das möchte ich natürlich mit 99-prozentiger Sicherheit sagen. Aber ich kann nicht sagen, ich bin dabei gewesen.“
Die Mehrheit der Kunsthistoriker geht von einer Vernichtung der Werke aus. Hans Prolingheuer hat das mit Hinweis auf fehlende Belege stets bezweifelt. Außerdem wies er darauf hin, dass vermeintlich vernichtete Werke nach 1945 wieder aufgetaucht seien.
Gertrud Werneburg, geboren am 3. Oktober 1902, ist am 26. Mai 1993 in Berlin verstorben. Prolingheuer schreibt 2001: „Der Verbleib ihrer reichhaltigen Sammlung, die der Verf. sah, ist bisher leider noch unbekannt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance