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Vergewaltigt auf Station 5a

In Bremen hat ein Mann in der Psychiatrie zwei Mitpatientinnen vergewaltigt. Sexualisierte Gewalt in geschlossenen Einrichtungen ist gar nicht so selten. Präventive Maßnahmen gibt es in Deutschland zu wenige

Ausgerechnet in Psychiatrien, wo Menschen in extremer seelischer Not untergebracht sind, ist das Risiko, einen sexuellen Übergriff zu erleben, hoch

Aus Bremen Eiken Bruhn (Text) und Paulina Eichhorn (Illustration)

Am frühen Abend des 25. Oktober 2022 betritt Malik Ali, ein 27-jähriger Patient der geschlossenen Psychiatrie des kommunalen Klinikums Bremen-Ost, das Zimmer der 71-jährigen Hanne Meyer. Nach einem Sturz liegt diese bewegungsunfähig in ihrem Bett. Malik Ali, ein großer Mann mit breitem Kreuz, schließt das Zimmer von innen ab, legt sich auf sie und dringt in sie ein. Aufgrund ihrer Erkrankung ist Hanne Meyer nicht fähig, sich zu wehren. Pflegekräfte, verwundert ob der verschlossenen Zimmertür, öffnen diese von außen und ziehen Malik Ali von der Frau herunter.

So soll es sich nach Überzeugung des Bremer Landgerichts zugetragen haben. Ende März spricht die zweite Strafkammer Malik Ali, der wie die mittlerweile verstorbene Hanne Meyer eigentlich anders heißt, nach vier Verhandlungstagen mangels Schuldfähigkeit frei. Der Gutachter, der das Verfahren begleitet, schließt trotz starker Medikamente weitere Übergriffe in psychotischen Zuständen nicht aus. Daher wird Malik Ali in den Maßregelvollzug, die Haftanstalt für psychisch Kranke, eingewiesen.

Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Ausgerechnet in Psychiatrien, wo Menschen in einem Zustand extremer seelischer Not Wochen und Monate verbringen, teils gegen ihren Willen, ist das Risiko, einen sexuellen Übergriff zu erleben, hoch. Das belegen zahlreiche Studien.

Doch eine Auseinandersetzung mit dem Thema findet selbst in Fachkreisen kaum statt. Zu diesem Fazit kommt die Ulmer Professorin Silvia Krumm, die zu Gewalterfahrungen von Personen mit Psychiatrieerfahrung forscht und eine laufende Studie dazu leitet. „Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Problem sexueller Gewalt steht noch aus“, schreibt sie in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“. Das war vor drei Jahren. Geändert habe sich daran wenig, sagt sie in einem Telefonat mit der taz.

Auch die Verbände, die sich für die Interessen psychisch Kranker einsetzen, äußern sich auf ihren Internet-Seiten nicht zu diesem Thema. Die taz hat zwei der größten angeschrieben und keine Antwort erhalten.

Gute Daten zur Häufigkeit in Deutschland gebe es bisher keine, sagt Silvia Krumm. Die Ergebnisse der wenigen, meist internationalen, Untersuchungen zu sexueller Gewalt in der Psychiatrie sind alarmierend. 2023 erschien eine Arbeit US-amerikanischer Wis­sen­schaft­le­r:in­nen, die sich mit der Studienlage auseinandersetzt. Danach berichteten zwischen fünf und 45 Prozent der Teil­neh­me­r:in­nen der verschiedenen Studien von sexueller Gewalt während eines Psychiatrieaufenthalts. Die große Spanne kommt dadurch zustande, dass einige Studien auch verbale Belästigung oder die Beobachtung eines sexuellen Übergriffs als sexuelle Gewalterfahrung erfassen. Andere nicht.

Die Häufigkeit von sexueller Gewalt in der Allgemeinbevölkerung liegt um ein Vielfaches niedriger. Nach einer von Wis­sen­schaft­lern:­in­nen der Universität Ulm vorgenommenen repräsentativen Bevölkerungsstichprobe aus dem Jahr 2016 in Deutschland erlebten innerhalb eines Jahres 0,6 Prozent der befragten Männer sexuelle Gewalt und doppelt so viele Frauen.

Im Psychiatrie-Kontext sind Frauen dreimal so oft wie Männer von sexueller Gewalt betroffen, fanden For­sche­r:in­nen heraus, die 2014 in Süddeutschland eine Befragung von 170 Personen in ambulanten und stationären Einrichtungen ausgewertet hatten. Von diesen hatten zwölf Personen (7,1 Prozent) sexuelle Gewalt durch Mit­pa­ti­en­t:in­nen erlebt, sechs durch Personal. Weitere Studien zeigen, dass weibliche Pflegekräfte in der Psychiatrie häufig sexuell belästigt oder angegriffen werden.

Diese Zahlen fehlen in Medienberichten über Vergewaltigungen in Psychiatrien, so dass sie wie Einzelfälle wirken. Bundesweit bekannt wurde etwa ein Vorfall am Universitätsklinikum Tübingen. Dort wurde 2024 ein Psychotherapeut in Ausbildung in erster Instanz zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt, wegen mehrfachen sexuellen Missbrauchs einer Patientin. Wenn der mutmaßliche Täter ein Mitpatient ist wie in Bremen, laufen die Verfahren unter dem Radar der Öffentlichkeit. Das liegt daran, dass viele Gerichte von sich aus nicht über Sexualdelikte informieren. So hatte es auch ein Sprecher des Bremer Landgerichts auf Nachfrage der taz begründet, die zufällig von dem Verfahren erfahren hat.

Noch häufiger aber werden sexuelle Übergriffe – unabhängig davon, wo sie stattfinden – gar nicht angezeigt. In keinem anderen Deliktfeld sei die Dunkelziffer so hoch, hob das Bundeskriminalamt zuletzt vor drei Jahren hervor. Aus den Studien zur sexuellen Gewalt in der Psychiatrie geht hervor, dass diese oft noch nicht einmal dem Personal mitgeteilt werden. So heißt es in der US-amerikanischen Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023: „Stigma, Schuld, Machtlosigkeit, Misstrauen, die Sorge, einem würde nicht geglaubt oder Angst vor dem Täter“, seien die Gründe, das Erlebte für sich zu behalten.

Der Bremer Prozess illustriert, wie die Glaubwürdigkeit von psychisch Kranken in Frage gestellt wird. Am dritten Verhandlungstag sagt die Ärztin aus, die die Station 5a leitet, auf der Malik Ali im Jahr 2024 noch einmal mehrere Monate in Behandlung war. Damals hatte eine andere, ebenfalls zwischenzeitlich verstorbene, Mitpatientin von Malik Ali einen Übergriff gemeldet. Sie soll hier Doris Koch heißen. „Hatte die Frau vielleicht Wahnvorstellungen?“, will die Richterin von der Stationsleiterin wissen. Malik Alis Anwalt zielt in dieselbe Richtung: „Haben Sie sie auch mal kritisch gefragt: Stimmt das wirklich?“ Die Ärztin reagiert irritiert. Die Patientin habe an einer posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. „Sie war nicht psychotisch.“

Doris Koch war im vergangenen Jahr zeitgleich mit Malik Ali auf der Station 5a des Klinikums Ost untergebracht. Auch ihr Fall wurde jetzt vor dem Bremer Landgericht verhandelt. Laut Anklage soll Malik Ali sie in der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 2024 gegen ihren Willen am Körper berührt und schließlich oral vergewaltigt haben. Dieses Mal war der mutmaßliche Tatort ein Gemeinschaftsraum, in dem die Patientin nach einem Streit mit ihrer Zimmernachbarin schlief. Das Verfahren stellte das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft ein, weil sich eine Verurteilung nicht auf das Gesamtstrafmaß ausgewirkt hätte.

Die Literatur nennt, neben der Angst, als unglaubwürdig zu gelten, einen weiteren häufigen Grund für das Schweigen der Opfer: Sie – und möglicherweise auch die Fachkräfte – halten sexuelle Gewalt für einen Ausdruck der psychischen Erkrankung des Täters. Dabei gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg für einen direkten Zusammenhang zwischen der Diagnose einer psychischen Erkrankung und dem Begehen einer sexuellen Straftat.

Malik Ali ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Denn seine Wahnvorstellungen bestanden nach Schilderung der Ärztin im gesteigerten Wunsch, sich fortzupflanzen. Aus Angst vor Impotenz und Libidoverlust habe er seine Medikamente nicht nehmen wollen. Malik Ali, der dem Prozess konzentriert und in eingesunkener Körperhaltung folgt, erzählt vor Gericht, dass ihm während eines Psychiatrieaufenthalts eine Stimme gesagt habe, alle Frauen auf der Station seien seine. Nach seiner Erinnerung sind viele zu ihm gekommen, weil sie ihn so attraktiv gefunden hätten. „Mit manchen habe ich geschlafen, mit manchen nicht.“ Die Vorsitzende Richterin hakt nach: Wo das war? „Auf der Station, im Garten“, sagt Malik Ali.

Ob das stimmt, wird im Prozess nicht geklärt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass darunter einvernehmlicher Sex war. Menschen legen ihre Sexualität nicht beim Betreten einer psychiatrischen Einrichtung ab. Darauf weist Silvia Krumm in ihrem Aufsatz hin. Im Psychiatrie-Kontext gelte aber nicht nur das Recht auf Sexualität – sondern auch das auf Schutz vor Übergriffen. Letzteres, schreibt sie, könne „auch bei konsensuellen Sexualkontakten greifen, wenn kognitive und emotionale Einschränkungen während einer psychischen Krise eine freie Willensentscheidung erschweren oder verhindern“.

Hinzu kommt, dass Menschen, die schon einmal sexuelle Gewalt in ihrem Leben erlebt haben, ein höheres Risiko mit sich tragen, psychisch zu erkranken. Hier setzt ein Teufelskreis ein: Psychisch Kranke werden laut der Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2023 als Erwachsene zwei- bis achtmal so oft Opfer sexueller Gewalt wie die Normalbevölkerung. Krumm gibt für Frauen mit Psychiatrieerfahrung eine zehnmal so hohe Betroffenheit an. Auch andere Formen von Gewalt gelten als Risikofaktoren. Warum? Es sei möglich, dass Menschen, deren Grenzen wiederholt verletzt wurden, diese nicht kennen oder nie erfahren haben, dass ihr „Nein“ akzeptiert wird, sagt Krumm. Eine andere Erklärung: Sie haben Sexualität so kennen gelernt, dass es ausschließlich um die Bedürfnisse des oder der anderen geht. „Für viele Menschen in der Psychiatrie gehört Gewalt zu ihrer Normalität“, sagt die Wissenschaftlerin. Daher liege womöglich auch für Mit­ar­bei­te­r:in­nen in der Psychiatrie die Aufmerksamkeitsschwelle bei dem Thema höher als in anderen Kontexten.

In anderen Ländern gibt es Ansätze, die sexuelle Übergriffe im Vorfeld verhindern sollen. Am weitesten ist ein Bundesstaat in Australien. In Western Australia müssen sich staatliche Einrichtungen seit 2020 an die Richtlinien zur sexuellen Sicherheit von Psychiatrie-Patient:innen halten. Dazu gehört, bei der Aufnahme Risiken zu identifizieren und entsprechend gegenzusteuern. Das gilt sowohl für potenzielle Täter als auch Opfer. Zudem sollen die Pa­ti­en­t:in­nen gefragt werden, ob sie besonderen Schutz brauchen. Denn auch das ist aus der Forschung bekannt: Wer – egal wo – schon einmal sexuelle Gewalt erlebt hat, fühlt sich unsicherer. Angst und Misstrauen erschweren wiederum Therapieprozesse, sagt Krumm. Auch vergleichsweise einfache Maßnahmen werden in dem australischen Papier genannt: etwa die, in Form von Aushängen Pa­ti­en­t:in­nen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen.

Von besserer Prävention profitieren, so zynisch es klingen mag, nicht nur die Betroffenen selbst. Sondern auch die Bei­trags­zah­le­r:in­nen der Krankenversicherungen. Denn wenn Psychiatrie-Patient:innen sexuelle Gewalt erleben, gesunden sie schwerer oder werden sogar noch kranker, schreibt Krumm 2022. Und: „Es besteht die Gefahr, dass sie aus Furcht vor (weiteren) sexuellen Übergriffen auf eine notwendige stationäre Behandlung verzichten.“

Dennoch gibt es in Deutschland nur äußerst zarte vergleichbare Ansätze. So sind Kliniken und niedergelassene Ärz­t:in­nen seit 2020 zwar zu Schutzkonzepten verpflichtet, um „Missbrauch und Gewalt insbesondere gegenüber vulnerablen Patientengruppen, wie beispielsweise Kindern und Jugendlichen oder hilfsbedürftigen Personen, vorzubeugen, zu erkennen, adäquat darauf zu reagieren und auch innerhalb der Einrichtung zu verhindern“. Das steht in der vom Gemeinsamen Bundesausschuss erlassenen Qualitäts-Management-Richtlinie. Doch schaut man sich die Schutzkonzepte der Kliniken an, haben diese ausschließlich Minderjährige im Blick.

Eine Ausnahme bildet das seit einem Jahr gültige Schutzkonzept des Uniklinikums Tübingen, das parallel zur Aufarbeitung des dortigen Missbrauch-Skandals entstanden ist. Aber weil der Täter ein Mitarbeiter war, geht es hier nur um Gewalt an Schutzbefohlenen. Nicht um Übergriffe, die von Pa­ti­en­t:in­nen ausgehen – die nach Studienlage den größeren Anteil ausmachen.

In Bremen gelten seit 2022 die Gender-Leitlinien für das psychiatrische und Suchthilfesystem. Diese fordern „verbindliche Gewaltschutzkonzepte“, die es in den kommunalen Kliniken bisher nicht verschriftlicht gibt. Auch abschließbare Schlafräume sowie geschlechtsspezifische Rückzugsräume und Stationen sehen die Leitlinien vor. „Geschlechtergetrennte Unterbringung und Behandlung soll möglich sein“, steht zudem im Bremer Gesetz, das die Behandlung von psychisch Kranken regelt.

Bis zu 45 Prozent von Studienteil­neh­me­r:in­nen berichten von sexueller Gewalt während eines Psychiatrieaufenthalts

Auf den psychiatrischen Stationen des Klinikums Bremen Ost gibt es, wie auch andernorts üblich, reine Frauenschlafzimmer – aber auf gemischten Stationen. Von innen abschließbar sind im Grundsatz alle; mit einem Knauf, der die Tür verriegelt. Relativ neu sind solche Zimmer, die mit einer Chipkarte auch von außen verschlossen und geöffnet werden können. Das ist von Vorteil, wenn sich mehrere Personen ein Zimmer teilen oder jemand bettlägrig ist. Drei solcher Zimmer soll es laut Klinik auf der Station 5a geben. Ob das Zimmer von Hanne Meyer mit einem solchen Mechanismus verriegelbar war, kann im Strafprozess nicht geklärt werden.

In eins dieser Zimmer darf die taz an einem Dienstag Ende Februar hineinschauen, es liegt im Haus 3. Das wurde 2018 renoviert und umgebaut, Flure und Zimmer sind hell und freundlich. In der Praxis bekämen die besonders Schutzbedürftigen nicht immer die für sie vorgesehenen Zimmer, erklärt der stellvertretende Stationsleiter. Schuld sei die permanente Überbelegung. „Wir müssen schauen, wo Platz ist.“

100 Meter weiter, im Haus 5, liegt die Station, auf der Malik Ali behandelt wurde. Beide Häuser befinden sich in einem weitläufigen Park, in dem wie hinein gewürfelt weiße Fachwerkhäuser mit roten Ziegeldächern stehen. Am Rand des Geländes ragen die drei Hochhaustürme des Hauptgebäudes auf, ein Betonbau aus den 70er Jahren. In einem Besprechungsraum unterhalb der Türme hat die Klinikleitung die taz zum Gespräch über den Umgang mit sexueller Gewalt und die konkreten Vorfälle eingeladen. Neben der Pressesprecherin und dem Psychiatrie-Chefarzt sind ein Vertreter der Klinikdirektion und die beiden Psychiatrie-Pflegeleiter:innen gekommen.

Martin Bührig, 1957 geboren und seit 22 Jahren Psychiatrie-Chefarzt in Bremen, hört eine Weile schweigend zu. Dann beugt er sich vor und spricht ein paar eindringliche Sätze, wie um klarzumachen, dass in dieser Klinik, zumindest in den leitenden Funktionen, niemand arbeitet, der oder die nicht wüsste, was sexuelle Gewalt ist – und wo sie beginnt. „Schon, wenn Frauen sprachlich zu Objekten degradiert werden – das ist eine Würdeverletzung, die wir nicht dulden.“

Mit­ar­bei­te­r:in­nen würden dafür sensibilisiert und auch dazu angehalten, Übergriffe jeglicher Art zu melden, gegen sie selbst oder Patient:innen. Sollte eine von Gewalt betroffene Person eine Anzeige bei der Polizei wünschen, so geschehe dies nach Möglichkeit durch die Klinik, damit die Anschriften der Geschädigten zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Akte landen. Das sehe der klinikinterne Prozessablauf vor. Der Pflegedirekor der Klinik, Jörn Sandtvos, weist darauf hin, dass „die besonderen Vorkommnisse“ in wöchentlichen Berichten dokumentiert würden, sexuelle Gewalt sei als eigene Kategorie aufgeführt. Eine Auswertung kann die Klinik nicht liefern, nur die Zahl der Gesamtvorfälle an allen besonderen Vorkommnissen nach Quartalen. Niemand in dieser Runde behauptet, dass man in der Psychiatrie sicherer vor sexueller Gewalt wäre als „draußen“. Nur glauben sie, bereits alles dafür zu tun, dass das Risiko gering bleibt. Jeder Einzelfall werde „aufgearbeitet“, sagt der Pflegedirektor. Was das im Fall von Malik Ali bedeutet, können die Klinikverantwortlichen nicht sagen. Aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht dürfen sie keine Auskunft über Patientendaten geben. Anhand der Gerichtsverhandlung lässt sich allerdings rekonstruieren, dass die Aufarbeitung, wenn es sie gegeben hat, keine Konsequenzen nach sich zog.

Nachdem Malik Ali im Oktober 2022 auf der Station 5a Hanne Meyer vergewaltigt hat, stellt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen ein. Die Schuldunfähigkeit sei absehbar gewesen, schreibt der Sprecher der Staatsanwaltschaft der taz. Der forensische Gutachter – derselbe, der ihn für das gerade abgeschlossene Gerichtsverfahren begutachtet hat – habe keine Anzeichen für eine Wiederholungsgefahr gesehen. „Es sah nach einer Ausnahme aus.“

Aus juristischer Sicht ist das plausibel. Malik Ali hatte, bis er vor vier Jahren nach Bremen zog, nach einer ersten medikamentösen Einstellung in der Klinik in Rotenburg an der Wümme unauffällig im niedersächsischen Umland gelebt und gearbeitet. Dort hatten sein Hausarzt und eine Flüchtlingshelferin dafür gesorgt, dass er regelmäßig seine Medikamente nimmt, wie diese vor Gericht berichtet. Malik Ali lächelt, als sie sich vor ihrer Aussage auf dem Gerichtsflur begegnen. Sie kennen sich seit Januar 2015, zwei Jahre zuvor war er aus dem Sudan geflohen, alleine, über das Mittelmeer.

„Für viele Menschen in der Psychiatrie gehört Gewalt zu ihrer Normalität“

Silvia Krumm, Professorin

Doch die Unterstützung in Bremen reicht nicht aus, und Malik Ali landet nach Aussage der Ärztin mehrfach auf der 5a: 2022, 2023, und dann noch einmal am 22. April 2024.

Und obwohl die Vergewaltigung der 71-jährigen Hanne Meyer im Jahr 2022 aktenkundig ist, wird er – so berichtet es die von der Schweigepflicht entbundene Ärztin vor Gericht – erst gut einen Monat nach seiner letzten Aufnahme unter eine Eins-zu-eins-Betreuung gestellt. Am 26. Mai 2024, zwei Tage nach der mutmaßlichen oralen Vergewaltigung im Gemeinschaftsraum. Die Maßnahme soll sicher stellen, dass er sich nicht wieder alleine Mit­pa­ti­en­t:in­nen nähern kann. Der Grund für das Handeln der Klinik: Malik Ali hatte sich an dem Tag zu einem Patienten ins Bett gelegt, ihm Mund und Nase zugehalten und ein Kissen aufs Gesicht gedrückt.

Die Klinik zeigt ihn deswegen an. Und wegen weiterer vier Übergriffe, von denen zwei im Strafverfahren mit verhandelt wurden. Die anderen zwei hatte die Staatsanwaltschaft vor Prozessauftakt eingestellt. Einmal soll er, trotz Eins-zu-eins-Betreuung, nach Überzeugung des Gerichts einer Pflegerin beim Mittagessen schmerzhaft in den Schritt gegriffen haben. Ein anderes Mal soll er im Vorbeigehen einer Patientin an die Brust gefasst haben.

Dreieinhalb Monate später, am 13. September, beantragt die Bremer Staatsanwaltschaft Malik Alis einstweilige Unterbringung im Maßregelvollzug. Vier Tage später wird er dorthin verlegt. Normalerweise würde es noch länger dauern bis die Justizbehörden handeln, sagt die Ärztin vor Gericht. Sie habe in diesem Fall nachgehakt.

Diese Geschichte endet mit zwei Erkenntnissen. Malik Ali hätte die Taten vermutlich nicht begangen, wenn er gesundheitlich besser versorgt gewesen wäre. Und zweitens: Solange sich nichts ändert, wird es weitere Opfer sexueller Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen geben, in Bremen und überall anders. Präventionskonzepte könnten helfen. Sie fehlen auch, weil sie niemand einfordert. Dazu müsste eine Bereitschaft in der breiten Gesellschaft entstehen hinzusehen und das Ausmaß des Leids zu begreifen. Brian Barnett, Psychiater an einer Klinik in Cleveland in den USA, schreibt 2020 in einem Essay „Der erste Schritt, um die sexuelle Sicherheit von Psychiatrie-Patient:innen zu gewährleisten, ist öffentlich anzuerkennen, dass es diese derzeit nicht gibt.“

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