Vergangenheitsbewältigung in Polen: "Der Pianist", Schuld und Gerüchte
In Polen erinnert die Biografie der jüdischen Sängerin Wiera Gran an ein unrühmliches Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Es geht um mögliche Nazi-Kollaboration in Warschau.
Kollaboration ist auch im heutigen Polen ein Tabu. Nicht nur, weil Kollaboration mit den Nazis oder den Sowjets als schändlicher Verrat galt, sondern weil mit diesem Vorwurf auch politische Gegner oder Konkurrenten ausgeschaltet wurden. Zurzeit diskutiert ganz Polen, ob das Leben der einst berühmten jüdischen Sängerin Wiera Gran durch solch ein böses Gerücht ruiniert wurde. Dies behauptet die in Polen renommierte Journalistin Agata Tuszynska in ihrer Biografie "Angeklagt: Wiera Gran". Schuldig wäre dann nicht Gran als angebliche Gestapo-Gespielin und -Zuträgerin, es wären diejenigen, die die üble Nachrede verbreiteten.
Tuszynska, die der 2007 im Pariser Exil gestorbenen Sängerin noch einmal eine Stimme gibt, behauptet, dass der berühmte Pianist Wladyslaw Szpilman die Gerüchteküche im Warschau des Jahres 1945 angeheizt habe. Dabei, so Gran, habe der durch Roman Polanskis Film "Der Pianist" bekannt gewordene Musiker selbst etwas zu verbergen gehabt. "Ich habe ihn genau gesehen", sagt Gran im Buch. "Szpilman in der Kappe eines Polizisten. Er zog eine Frau an den Haaren." Schon in ihren 1980 veröffentlichten Memoiren hatte Gran den Musiker bezichtigt, den Nazis in die Hände gearbeitet zu haben.
Andrzej Szpilman, der Sohn des Pianisten, kämpft nun um den guten Ruf seines Vaters. Er will Agata Tuszynska wegen Verleumdung und übler Nachrede verklagen. Der Verlag müsse das Buch zurückziehen. Sein Vater sei ein "Opfer der Nazis gewesen, nicht deren Helfer". Szpilman wiederholt das Gerücht, das die Sängerin ihr ganzes Leben lang verfolgte. Denn, so Szpilman, nicht sein Vater, sondern Gran habe nach dem Krieg im Verdacht gestanden, mit der Gestapo gemeinsame Sache gemacht zu haben.
Der Konflikt zwischen Wiera Gran und Wladyslaw Szpilman reicht bis ins Jahr 1945 zurück. Im Warschauer Ghetto traten die Sängerin und der Pianist fast jeden Tag gemeinsam im Café Sztuka auf. Wiera Gran war jung, schön, verführerisch und zugleich unnahbar. Die Männer lagen ihr zu Füßen. Szpilman komponierte für die "polnische Piaf" Chansons. Oft begleitete er sie am Klavier. Doch in seinen direkt nach dem Krieg veröffentlichten Erinnerungen erwähnte er Gran mit keinem Wort. Auch in Polanskis mit drei Oscars ausgezeichneten Film kommt sie nicht vor. Dabei war in Wirklichkeit nicht der Pianist, sondern die Sängerin der Star des Cafés.
Das Sztuka galt vielen im Ghetto als anrüchig. Hier amüsierten sich die Reichen, die es auch im "jüdischen Wohnbezirk" noch gab. Kellner servierten Champagner, Lachs und Kaviar. Auf der Bühne löste Wladyslaw Szlengel mit seiner satirischen Tageschronik Lachsalven aus, Wiera Gran sang Vorkriegsschlager, Revuegirls tanzten Cancan, Musiker spielten Wunschkonzerte. Auch Schmuggler kamen ins Café Sztuka, Kriegsgewinnler und Gestapo-Agenten.
Besonders zuvorkommend wurden die Angehörigen der Ghettopolizei bedient. Die Männer mit den charakteristischen Kappen waren gefürchtet, konnten aber auch Schutz bieten. Sie fingen die von den Nazis angeforderten "Aussiedler in den Osten" ein und trieben sie zum Umschlagplatz. Von dort fuhren die Züge in die Vernichtungslager. Die Polizisten konnten aber auch Verhaftete wieder freilassen oder Bedrohte vor einer bevorstehenden Razzia warnen. Bei dieser Polizei soll Szpilman laut Wiera Gran für ein paar Tage angeheuert haben, nach der Schließung des Cafés und vor seiner Flucht aus dem Ghetto.
Die schwere Anschuldigung, die außer Gran niemand erhebt und die erst jetzt durch Agata Tuszynskas Buch in aller Munde ist, scheint eine Retourkutsche für das Kollaborationsgerücht zu sein, das Szpilman nach 1945 über Gran verbreitete. "Man erzählt, du habest mit der Gestapo zusammengearbeitet", sagte er ihr ins Gesicht. Die Sängerin bekam daraufhin kaum noch ein Engagement in Polen. Zwar wurde sie in zwei Prozessen vom Vorwurf freigesprochen, eine Gestapo-Geliebte und -Zuträgerin gewesen zu ein. Dennoch konnte Wiera Gran ihre glänzende Karriere nicht fortsetzen. Das Gerücht, mit den Mördern kollaboriert zu haben, verfolgte sie überallhin.
Selbst in Israel, wohin sie schließlich auswanderte, "wussten" die aus Polen geflohenen Juden bereits, wer sie angeblich war. So verließ Gran das Land wieder und zog nach Paris. In ihren letzten Lebensjahren besuchte Tuszynska die völlig vereinsamte und an Verfolgungswahn leidende Sängerin. Umgeben von Künstlerfotos und Plakaten glaubte sie, dass Polanski mit dem Film "Der Pianist" das Werk Szpilmans vollenden und sie aus der Geschichte auslöschen wollte. 2007 starb Wiera Gran. Einen Grabstein, der an sie erinnern würde, gibt es nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden