Verfassungsreferendum in Chile: Ein Erdrutschsieg reicht nicht
Mit großem Abstand stimmt die Bevölkerung in Chile für die Ausarbeitung einer neuer Verfassung. Doch es braucht weiter viel Druck von der Straße.
![Demonstrierende schreien und heben ihre Arme während eines nächtlichen Protestmarsches die Höhe Demonstrierende schreien und heben ihre Arme während eines nächtlichen Protestmarsches die Höhe](https://taz.de/picture/4458865/14/chile-demonstration-protest-verfassung-1.jpeg)
E s ist ein historischer Etappensieg der sozialen Rebellion in Chile. Mit überwältigender Mehrheit hat sich die Bevölkerung in einem Referendum für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung entschieden. “Apruebo – Ich stimme zu“ war der Slogan der Befürworter*innen, und knapp 80 Prozent der Stimmberechtigten taten es. Sie stimmten dafür, dass die neue Verfassung von einem neu gewählten Verfassungskonvent verfasst werden soll und nicht von einem Mix aus Kongressabgeordneten und hinzugewählten Delegierten.
Ein Grund zum Feiern ist auch die Differenz von fast 60 Prozentpunkten zu den Gegnern. Sie zeigen, wie heftig die Niederlage für die der Ablehnenden ausgefallen ist. Denn dass am Sonntag lediglich darüber abgestimmt wurde, ob eine neue Verfassung überhaupt ausgearbeitet werden soll – und nicht gleich die Mitglieder für einen Verfassungskonvent gewählt wurden –, war dem Druck der extremen und Pinochet-treuen Rechte in der Regierungskoalition von Präsident Sebastián Piñera geschuldet.
Als neoliberaler Musterknabe hatte Chile die Vorgaben der sogenannten Chicago-Boys um den US-Ökonomen Milton Friedman konsequent umgesetzt und dabei auf brutale Repressionen wie in der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) zurückgegriffen. Es ging sogar so weit, dass die Herrschaft des Marktes 1980 in der Verfassung festgeschrieben wurde. Auch 30 Jahre nach der Pinochet-Diktatur ist noch immer nahezu alles in privater Hand.
Chile Armenstatistik ist derart irreführend gestrickt, dass selbst Minimalverdienende über der Armutsgrenze liegen. Das Bildungssystem ist ein derart übles Geschäftsmodell, dass die Lernenden am Ende ihrer Ausbildung hochverschuldet auf den Arbeitsmarkt entlassen werden. Sie sind dann gezwungen, Jobs jeglicher Art anzunehmen – egal unter welchen Bedingungen. Und am Ende des Arbeitslebens führt das private Rentensystem direkt in die Altersarmut. Die Oase des Friedens, als die Piñera Anfang Oktober letzten Jahre das Land lobte, entpuppte sich als Fata Morgana.
Schon vor Jahren hatte es in der Gesellschaft immer stärker zu brodeln begonnen. Am Ende war es eine selbst für chilenische Verhältnisse geringe Preiserhöhung der U-Bahn-Tickets um 30 Peso, die vor einem Jahr die Eruption auslöste.
Überrascht vom dem gewaltigen und gewalttätigen Ausmaß waren denn auch nur die, die eine Oase zu sehen glaubten. Die ökonomisch-politische Elite begriff aber schnell, dass es ans Eingemachte geht. Entsprechend brutal und menschenrechtsverletzend ließ sie die Ordnungskräfte agieren, allen voran die militärisch auftretenden Carabineros. Deshalb war die Heftigkeit der sozialen Eruption auch notwendig, um diese Elite zu grundlegenden Zugeständnissen zu zwingen wie die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Die kann mit der Wahl eines Verfassungskonvents jetzt in Angriff genommen werden. Damit dies geschieht, braucht es auch weiter den Druck von der Straße.
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