Kritik der Woche : Verdichtete Realität der Mittzwanziger
Mit den Fingern zu essen ist nicht eklig. Leute, die mit den Fingern essen, erfassen mehr von der Welt. Daher trägt die Fingeresserin auch Gummistiefel: allzeit bereit, sich den großen Erfahrungsschatz dieser Welt anzueignen. So wie sie sind alle ProtagonistInnen in Finn-Ole Heinrichs Geschichten „die taschen voll wasser“ irgendwie vorbereitet. Doch dann trotzdem Stillstand, wenn die Zukunft auf einmal Gegenwart wird, und alles, was bleibt, ist Angst.
Diese Ungewissheit, wenn plötzlich der beste Freund stirbt, eine Freundschaft ausläuft, die Beziehung nicht mehr funktioniert und das Ertränken und Reden mit Alkohol und Zigaretten auch nicht mehr. Plötzlich wird alles durchgeschüttelt wie die vergessene Schneekugel-Plastikwelt auf dem Schrank des toten Vaters, und Heinrichs Anti-HeldInnen können noch nicht einmal klagen. Dann denken sie sich fern und stellen fest: „Wie dünn unser Leben ist. Wie zufällig alles, was wir haben.“
Und manchmal sind sie selbst schuld an der Grausamkeit des Lebens, wie die obsessive Bulimikerin, die der besten Freundin den Freund ausspannen will und dafür die Katze verdursten lässt und Bleichmittel ins Waschpulver mischt. Auf der Sinnsuche versuchen sie, sich selbst zu belügen oder zu disziplinieren – beides ist anmaßend, beides ist zum Scheitern verurteilt.
Solche Geschichten über das Innenleben der Mittzwanziger hat es schon viele gegeben. Bei Heinrich gibt’s aber keine Nabelschau des Selbst, sondern dramatische Tiefen, authentische Figuren, zu aufrüttelnder Fiktion verdichtete Realität. „Meine wichtigste Motivation für das Schreiben ist der Drang, mich einzumischen, das Maul nicht halten zu wollen“, sagt der 23-jährige Cuxhavener, der in Hannover Film studiert.
Solch fast schon politisches Erzählen wurde bereits vielfach belohnt: 2002 als Stipendiat der Stiftung Niedersachsen, Teilnehmer des 17. Treffens Junger Autoren, Träger des Bayerisch-schwäbischen Literaturpreises 2003. Heinrich ist ein Kind der Literaturförderung, was ihn aber nicht davon abhält, gleichzeitig ein sehr aktiver Poetry Slammer zu sein. Aber Fingeresser können ja auch noch nach wie vor mit Messer und Gabel umgehen. Müssten sie eins von beidem aufgeben, würde ihnen schlicht was durch die Finger rinnen, und das wäre im Fall von Finn-Ole Heinrichs Sicht auf die Welt wirklich schade. Kerstin Fritzsche
Finn-Ole Heinrich: „die taschen voll wasser“, mairisch Verlag, 8,90 €