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Ver.di-Bundeskongress in LeipzigDirekte Verkaufe vor Ort

Mit geschickter Akquise und mehr Demokratie versucht die Gewerkschaft ver.di in den Betrieben Fuß zu fassen. Mit kleinen Erfolgen.

Ist um neue Mitglieder bemüht: Gewerkschaft ver.di Bild: reuters

BERLIN taz | Ver.di rüstet auf. Früher bekamen die Besucher des Ver.di-Bundeskongresses nur eine stabile Tasche, um die Anträge der diversen "Bundesfachgruppenkonferenzen", "Landesbezirkskonferenzen" und "Landesbezirksfachbereichskonferenzen" zu transportieren. Jetzt verschenkt die Gewerkschaft schon einen Trolley, um die kiloschweren Ordner mit den mehr als 1.000 Anträgen beim kommenden Kongress durch die Gegend rollen zu können.

Das Material zum Kongress lässt eine Großveranstaltung alten Stils befürchten. Dabei geht die Dienstleistungsgewerkschaft bei der Mitgliederwerbung vor Ort längst neue Wege.

"Ver.di hat von allen Gewerkschaften den größten Willen, sich neue Organisationsformen anzueignen", sagt Klaus Dörre, Soziologe und Gewerkschaftsforscher an der Universität Jena. Mit diesen Methoden der Mitgliederwerbung ist die Gewerkschaft neuerdings erfolgreich. Seit 2008 verzeichnet Ver.di bei den Erwerbstätigen mehr Ein- als Austritte.

"Organizing" etwa ist eine aus den USA importierte Methode, bei denen hauptamtliche Gewerkschafter versuchen, mit nichtorganisierten Beschäftigten eines Betriebes in Kontakt zu kommen und gemeinsam Konflikte anzugehen. Auf diese Weise sollen mehr Mitglieder rekrutiert werden.

Der große Integrator

Ohne ihn wäre Ver.di nicht da, wo die Organisation heute steht: Frank Bsirske wird sich am Montag wohl zum vierten und letzten Mal an die Spitze der Dienstleistungsgewerkschaft wählen lassen. Der 60-Jährige, Sohn eines VW-Arbeiters und einer Krankenschwester, hat 2001 das Kunststück maßgeblich mitgestaltet, gegen zum Teil erhebliche Widerstände die fünf Gewerkschaften der Angestellten (DAG), der Post (DPG), des Handels, der Banken und Versicherungen (HBV), des öffentlichen Dienstes, des Transport- und Verkehrswesens (ÖTV) und der Medienberufe (IG Medien) in Ver.di zusammenzuführen. In den folgenden Jahren wurde Bsirske, der Mitglied bei den Grünen ist, zum großen Integrator der Multibranchengewerkschaft.

Bsirske avancierte dabei rasch zum bissigsten aller Gewerkschaftsvorsitzenden: Seit 2003 fuhr er einen Kurs der Fundamentalopposition gegen die Agenda 2010 von Rot-Grün, die Rente mit 67 hält er "grundsätzlich für Mist". Seine Tarifbilanz ist jedoch durchwachsen: Nur selten konnte die Gewerkschaft in den letzten Jahren die Verteilungsspielräume ausschöpfen.

Zur Wahl steht auf dem Kongress neben dem Vorsitzenden auch der komplette Bundesvorstand. Künftig sollen 9 der insgesamt 14 Plätze mit Frauen besetzt werden, bisher waren es 7. Nach eigenen Angaben sind etwas mehr als die Hälfte der Ver.di-Mitglieder weiblich.

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Der ver.di-Bundeskongress

Der Kongress: Unter dem Motto "Vereint für Gerechtigkeit" treffen sich 1.000 Delegierte der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di vom 17. bis zum 24. September in Leipzig zum alle vier Jahre stattfindenden Bundeskongress. Sie entscheiden über rund 1.000 Anträge. (www.bundeskongress2011.verdi.de )

Die Themen: Schwerpunkte bilden die Arbeitsbedingungen in kirchlichen Einrichtungen, Dienstleistungspolitik, prekäre Arbeit, die Finanzkrise und die Organisationsentwicklung. Kontrovers diskutiert wird u. a. die Höhe der politischen Mindestlohnforderung - ob 8,50, 10 oder gar 12 Euro angemessen sind. Auch die Forderung nach einem Verbot der Leiharbeit ist Thema. Umwelt- und gesellschaftspolitische Themen stehen ebenfalls auf der Agenda. (voe)

Die sogenannte bedingungsgebundene Tarifarbeit ist ebenfalls keine plumpe Agitation, sondern geschickte Akquise: In Firmen, in denen nur wenige Beschäftigte einer Gewerkschaft angehören, machen die Aktivisten den nichtorganisierten KollegInnen klar, dass sich mit einem höheren Organisationsgrad zum Beispiel attraktivere Haustarifverträge aushandeln lassen.

Das hat in der privaten Rhön-Klinikum AG beispielsweise gut funktioniert. Dort verdoppelte sich die Zahl der gewerkschaftlich Organisierten unter den Beschäftigten innerhalb von anderthalb Jahren. Heute kommen knapp 8.000 Ver.di-Mitglieder auf 30.000 Beschäftigte der Kette, die aus etwa 50 Häusern besteht.

In der Zentralklinik Bad Berka in Thüringen "hatten wir am Anfang nur 48 Gewerkschaftsmitglieder unter 1.000 Beschäftigten", erzählt Oliver Dilcher, Gewerkschaftssekretär bei Ver.di. Er hat das Konzept der "bedingungsgebundenen Tarifarbeit" vor drei Jahren entwickelt.

Am Anfang veranstaltete er einen Workshop für die wenigen aktiver Ver.dianer in der Klinik. Diese befragten dann die MitarbeiterInnen des Krankenhauses: Wo drückt der Schuh am meisten? Dass die Löhne immer noch so viel niedriger sind als im Westen, schlug Krankenschwestern, Pflegern und PhysiotherapeutInnen besonders aufs Gemüt.

Die Ver.dianer rechneten ihnen in Flugblättern konkret vor, um wie viel Euro ihre Gehälter steigen könnten, wenn Ver.di im Betrieb mehr Mitglieder und damit mehr Kampfkraft für einen besseren Haustarifvertrag besäße. Die Zahl der Ver.di-Mitglieder in der Klinik wuchs von Monat zu Monat.

Der geltende schlechte Haustarifvertrag wurde gekündigt, bei den Verhandlungen wollten die Arbeitgeber keinen Streik riskieren. Die erstarkte Ver.di-Belegschaft erwirkte am Ende ein Plus von 350 bis 400 Euro pro Monat auf dem Lohnzettel. Jeder zweite Beschäftigte in der Zentralklinik ist heute Ver.di-Mitglied.

"Mit der neuen Strategie wird ein niedriger gewerkschaftlicher Organisationsgrad im Betrieb, früher oft ein streng gehütetes Geheimnis, offengelegt", erklärt Dilcher. Er dient als Hauptargument gegenüber den Beschäftigten, die noch keinen Mitgliedsausweis haben.

Wenn nichtorganisierten Beschäftigten dann von ihren Kollegen bei Ver.di klargemacht werde, dass es doch eigentlich nicht okay sei, eventuell von den Segnungen eines besseren Haustarifvertrages zu profitieren, ohne sich selbst mit einem Prozent vom Bruttolohn als Gewerkschaftsbeitrag zu beteiligen, stiegen die Zugänge, sagt Dilcher.

Erfolge mit neuen Strategien kann auch Bernd Riexinger, Geschäftsführer des Stuttgarter Ver.di-Bezirks, nachweisen. "Wir haben in allen zwölf H&M-Filialen in Stuttgart und Umgebung Betriebsräte installiert."

Auch hier gingen die wenigen Beschäftigen der Modekette, die bei Ver.di waren, auf die Nichtorganisierten im Betrieb zu. Gemeinsam analysierte man Missstände und einigte sich auf Forderungen. Die direkten Folgen für die vor allem jungen Beschäftigten: Man erstritt eine Regulierung der Arbeitszeiten, etliche Verträge wurden entfristet.

Der Fall Schlecker

Auch bei der Drogeriemarktkette Schlecker wurden Betriebsräte installiert und Mitglieder gewonnen. "Da mussten wir Leute aus der Gewerkschaft hin entsenden, die langfristig die Bedürfnisse und Voraussetzungen im Betrieb analysiert haben, um dann gemeinsam mit den Beschäftigten die Konfliktthemen anzugehen," berichtet Riexinger.

Der Fall Schlecker war ein klassischer Fall von "Organizing", weil die Gewerkschafter von außen auf die Beschäftigten zugehen mussten und nicht auf schon vorhandene Strukturen im Betrieb bauen konnten.

Die Erfolge der neuen Strategien liegen in einer anderen Herangehensweise: Die hauptamtlichen Gewerkschafter halten sich zurück. Was zählt, sind die Wünsche der Beschäftigten vor Ort. "Wenn die Leute die Gewerkschaft als ihre begreifen sollen, müssen sie auch das Sagen haben", sagt Riexinger.

Das schlägt sich auch in einem neuen Streikverständnis nieder: Nicht mehr die regionale Gewerkschaftsführung entscheidet, bis wann ein Streik fortgeführt wird. "Das übernehmen die Streikenden selbst, die jeden Tag Streikversammlungen abhalten". schildert Riexinger.

Demografisches Problem

Der Arbeitsprotest wird zudem mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen und Aktionen kombiniert, mit Performances oder den sogenannten Flashmobs. Das sind blitzschnell durchgeführte und vorab abgesprochene Massenaktionen, bei denen zum Beispiel scheinbare "Kunden" als Zeichen des Protests Einkaufswagen voll gepackt an der Kasse stehen lassen.

"Wenn es eine klar identifizierbare Gerechtigkeitsproblematik gibt, dann zahlt sich Konfliktfähigkeit aus. Sie steigert den Organisationsgrad", erklärt Gewerkschaftsforscher Dörre. Allerdings seien längst nicht alle Mitglieder von Ver.di davon überzeugt.

"Es gibt auch genügend Bereiche, beispielsweise Teile des öffentlichen Dienstes, da will man lieber die Besitzstände wahren, statt Neues auszuprobieren." Unterentwickelt seien zudem die Angebote für die Hochqualifizierten und kreativen Selbstständigen. "Da gibt es noch viel Potenzial."

Immer noch Verluste

Die neue Mitgliederentwicklung ist ein zartes Pflänzchen. 2010 traten beispielsweise 3.000 mehr Erwerbstätige in Ver.di ein als aus. Dennoch bleibt der Mitgliedersaldo negativ. Viele Ver.di-Mitglieder gehen in Rente, und auch wer arbeitslos wird, gibt häufig den Gewerkschaftsausweis zurück.

Im Zehnjahresvergleich zeigt sich der Aderlass: Seit der Fusion aus fünf Einzelgewerkschaften vor zehn Jahren sank die Zahl der Mitglieder von rund 2,9 auf knapp 2,1 Millionen.

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5 Kommentare

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  • SS
    Stefan Schütt

    Es ist erfreulich, dass ver.di aufwacht. Dennoch gibt es bei ver.di viele interne Probleme. Die ehrenamtlichen Mitglieder und Aktiven werden oft nicht ausreichend unterstützt und auch bei Tarifaktionen habe ich Einmischungen von den oberen Funktionären erfahren. Kleine Aktionen wurden nochmals klein gehalten.

    (Tarifaktion in Hamburg „KTD Tour“ in der Diakonie)

    In vielen Gesprächen mit ver.di Mitgliedern stellte ich die gleichen Probleme fest. Viele dieser Mitglieder sind viele Jahre dabei und der Gedanke am Austritt war immer naheliegend. Nicht alle haben diesen Schritt in der Realität gemacht. Zum einen weil sie der Meinung waren, besser eine schlechte Gewerkschaft als keine oder weil der Mut zur Eigeninitiative nicht stark genug war.

    Die Anbiederung der Gewerkschaft an das gewachsene System zog ebenfalls viele Zweifel an. Der Opportunismus ist teilweise stark ausgeprägt. Aber es gibt Hoffnung! Einige Funktionäre und ehrenamtliche Mitglieder kämpfen für Veränderung. So konnte ich in Hamburg im Fachbereich 3 ( Gesundheit, Diakonie & Kirche )durch den Wechsel eines Gewerkschaftssekretärs eine Menge Veränderungen feststellen, die in die richtige Richtung zeigen. Wir können nur hoffen, dass diese Entwicklung nachhaltig sein wird.

    Besonders im Umgang mit Öffentlichkeit und Medien scheint ver.di merkwürdige Vorstellungen von Demokratie und Öffentlichkeitsarbeit zu haben. Hier muss die Messlatte die ver.di in der Öffentlichkeit vertritt auch für die Gewerkschaft selbst gelten. (Hintergrundinfos unter www.rundumpflege.blogspot.com)

  • UM
    Ulli Müller

    Gewerkschaften sind nicht alles,.

    aber ein guter Anfang!

    Starke Gewerkschaften sind ein noch besserer Anfang.

    Man muss auch als Gewerkschafter aktiv und engagiert bleiben.

    Gewerkschaften müssen sich reentwickeln,

    back to the roots,

    zurück zu den Menschen.

    Vielleicht ist Verdi auf einem guten Kurs.

  • S
    Sondermann

    Ich bin nach langjähriger Mitgliedschaft 2009 ausgetreten. Skeptisch macht mich zunächst die bürkoratische Grundhaltung in vielen ver.di-Einrichtungen. Die Servicebereitschaft ist nach meiner Erfahrung meist gering, die Abfertigung erinnert oftmals ans Arbeitsamt. Gruselig wird es, wenn man im Arbeits- oder Sozialrechtsstreit steht und eine/n unmotivierte/n Rechtssekretär/in hat: Die können einem mit ihrer verbreiteten Unlust zu arbeiten den Prozess regelrecht versaubeuteln. Nach der Pingpong-Methode vertagen sie eine Rechtsentscheidung mitunter solange, bis sie sich von selbst erledigt hat. Ein Prozessgegner machte sich vor Jahren über die Gewerkschaftsminister lustig: Sie seien kaum fähig, ihm (einem Consulting-Chef aus Bonn) ernsthafte Zugeständnisse zu machen. Leider behielt dieser Mann weitgehend recht.

     

    Organizing klingt originell und effektiv. Ich glaube jedoch nicht, dass ver.di damit die Barrikaden gewerkschaftsfeindlicher Unternehmen in notleidenden Branchen ernsthaft durchbrechen kann. Beispiel: Die Stiftung Bildung und Handwerk unterhält etliche Weiterbildungsträger. In diesen Firmen gilt die ver.di-Mitgliedschaft als absolutes No Go. Bei meinem Arbeitgeber wurde letztes Jahr eine Betriebsrätin gemobbt, weil sie aus ihrer ver.di-Mitgliedschaft keinen Hehl machte.

     

    Eine weitere Schwäche, die ich bei ver.di sehe, ist die zweckrationale Ausrichtung auf die Kernbelegschaft. Praktikanten, Zeitarbeiter und Arbeitslose sind und bleiben vermutlich Randgruppen. Das ver.di-Büro einer rechtsrheinischen Kleinstadt lehnte das Engagement für eine Schülerpraktikantin, die ich beruflich betreue, mit der Begründung ab, von Ausbeutung könne keine Rede sein, da die freiwillige Arbeit hier gang und gäbe sei.

  • M
    Mark

    Es ist gut, wenn die Löhne steigen, aber wie sieht es mit der Leih- und Zeitarbeit, mit 1-EURO-Jobs aus? Früher neigten Gewerkschaften dazu, lieber die festen Angestellten eines 1-EURO-Vereins zu organisieren, als die 200 Teilnehmer der Maßnahme. Und es gibt bei einem 1-EURO-Job zum Beispiel keinen Betriebsrat, kein Streikrecht, keine Regularien und meistens keinerlei Kontrollen, ob die Leute ausgebeutet oder tatsächlich qualifiziert und vermittelt werden.(Und viele solcher Maßnahmen haben normale Jobs gekillt und werden politisch betrieben, meist nicht mal versteckt, sondern ganz offen)

     

    Und da frage ich mich schon, warum ver.di sich immer kämpferisch gibt, aber selber teilweise für die SPD in Parlamenten mitarbeitet und auch sonst dem Establishment gefährlich nah kommt. Immerhin scheint ein Umdenken jetzt stattzufinden, aber 2011 ist ganz schön spät.

    Nach Marx müssen Gewerkschaften dort am aktivisten sein, wo die Widersprüche und Konflikte am größten sind ... Das ist bei diesen Beispielen hier wohl nicht der Fall.

  • VO
    vor Ort

    US-Stadtverwaltungen nutzen Ipads um nicht tausende Seiten von Papier für jede Sitzung zu drucken müssen.

    Und eine gute EZB oder Wirtschaftswaisen u.ä. würden auch per Bluetooth die Berichte an alle Handies im Raum beamen statt nur eine Seite zu drucken. Drucken war gestern. Das man direkt kommentieren kann, und die Chefs sich Fragen stellen müssen und jeder sieht, wo die kritischen Punkte sind, kommt dann als Google-Dienst statt von Deutschland weil man hier dafür abgemahnt wird.

     

    Wenn die verdi seine Beiträge wert ist, würde es ja mit seiner Unter-Orgnisation "dju" dafür sorgen, das nicht immer mehr überflüssige Journalisten ausgebildet werden. Die nächste Krise kommt garantiert. Schweinezyklen gibt es, seit es Schweine gibt.

    Verdi kommen einem hingegen so weltfremd und fortschritts-verweigernd vor wie die meisten Politiker.