Verbraucherportale: Die kleinen Prousts beim Duschen
Beim Duschgel geht es um einen Fiktionswert - darum, welche Rollen und Eigenschaften sie dem Konsumenten in Aussicht stellen.
Wie sähe die heutige Konsumkultur ohne die Verbraucherportale im Internet aus? Viele können sich das kaum noch vorstellen, treffen sie doch fast keine Kaufentscheidung mehr, ohne zuvor Testberichte anderer Konsumenten gelesen zu haben. Immerhin geben diese Berichte häufig wertvolle Informationen über Produkteigenschaften, Preis-Leistungs-Verhältnisse oder (un)erfüllte Gebrauchswertversprechen. Doch sollten sie ebenso als neuartige, von erstaunlich vielen Menschen gepflegte Textgattung geschätzt werden. So stehen auf den Seiten von ciao.de, dem größten deutschen Verbraucherportal, Berichte zu über zwei Millionen Produkten - und oft kann man zehn, zwanzig und mehr Texte zu einem einzigen Produkt lesen, zum Teil mehrere Seiten lang, wenn man sie ausdruckt.
Es handelt sich hierbei um eine Laienprosa, wie sie früher eher in Briefen oder Tagebüchern ihren Ort hatte. Gelegentlich stößt man sogar regelrecht auf Konfessionstexte, die in einer Mischung aus Beichte und Werbung Produkterfahrungen mitteilen. Damit können die Berichte alle diejenigen eines Besseren belehren, die die massenmediale Gegenwart als illiterates Zeitalter kritisieren. Vor allem aber stellen sie für kulturwissenschaftliche Studien eine geradezu einmalige Quelle dar: Wo sonst fände man so viel Stoff, wenn man Alltagsphänomene, Fantasien oder Ritualisierungen des Handelns analysieren will?
Beispielhaft sei hier ein Blick auf Duschgels geworfen. Bei ihnen handelt es sich um einen relativ jungen Produkttyp; die Angebotsvielfalt dürfte mittlerweile jedoch zu den differenziertesten überhaupt gehören: Man kann sie je nach Tageszeit, Temperament, Situation, Geschlecht oder Hauttyp wählen - und kann sich aufgrund von Verpackungsdesign, aufgedruckten Botschaften und Werbung höchst Unterschiedliches erhoffen. Wie bei nur wenigen anderen Produkttypen geht es bei Duschgels also primär um einen Fiktionswert - darum, welche Rollen und Eigenschaften sie dem Konsumenten in Aussicht stellen. Wollen sich die einen unter der Dusche fit für einen wichtigen Termin machen, so suchen andere Entspannung, eine kreative Pause oder Erfrischung. Auf jeden Fall erwartet keiner, bloß sauber zu werden.
Wie sehr aber die einzelnen Duschgels tatsächlich zur Erfüllung der diversen Hoffnungen beitragen, verraten die Testberichte. So schreibt eine Verbraucherin nach dem Ausprobieren einer Winter-Edition, ihrer "neuesten Duschgelerrungenschaft": "Und auch wenn ich eigentlich am liebsten mit einem guten Buch in der heißen Badewanne liege, muss ich sagen, dass eine schnelle Dusche mit diesem Duschgel wirklich eine Alternative ist." Die Ablenkung und Stimulation, die sonst ein Krimi oder Roman bieten, leistet also offenbar genauso das richtige Duschgel. Bei anderen löst ein Duschgel sentimentale Erinnerungen aus - und unter der Dusche steigen, angeregt vom Geruch, innere Bilder auf. So könne man, heißt es in einem Bericht, bei einem Duschgel "mit seiner Kombination aus Honig und Ingwer-Extrakten von romantischen Winterabenden träumen. Man könnte meinen, es ist Weihnachten und die Mutter backt frisches Weihnachtsgebäck."
So werden die Berichtschreiber zu kleinen Marcel Prousts, dessen vieltausendseitiger Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" bekanntlich nur die Erinnerungsströme festhält, die der Geschmack einer zur Teestunde genossenen Madeleine auslöste. Aber natürlich reproduzieren viele der Berichte auch lediglich die meist kitschig-trivialen Images der Produkte: Heißt ein Duschgel "Traumland", so ist überdurchschnittlich häufig davon die Rede, dass man sich beim Duschen wie beim Träumen fühlt. Den Herstellern verraten die Berichte somit, wie gut die Placeboeffekte, auf die sie es absehen, wirken - und wann eine Produktinszenierung noch zu schlecht ist, um positive Gefühle zu wecken.
Doch so banal sein mag, was tausende von Konsumenten an Testprosa verfassen (in gewisser Weise auch ein marktwirtschaftliches Pendant zu Stasiberichten!), so sehr ist andererseits anzuerkennen, wie detailliert und engagiert sie dabei vorgehen, wie genau sie also ihren Alltag reflektieren. Tragen viele Produkte schon dank der sinnstiftenden Fiktionswerte, die sie transportieren, zu einer Überhöhung an sich profaner Tätigkeiten bei, so erfahren diese spätestens in den Testberichten eine Ritualisierung. Beginnt man die vielen, vielen Seiten zu lesen, die allein über Duschgels im Internet stehen, dann wird einem schnell klar, wie sehr die Konsumkultur innerhalb weniger Jahrzehnte dazu geführt hat, aus dem Duschen eine geradezu weihevolle, von Bedeutsamkeit strotzende Handlung zu machen. Und da dies nur eines von vielen möglichen Beispielen ist, liegt der Schluss nahe, die Konsumwelt insgesamt als Welt zahlreicher neuer Rituale zu begreifen. Kulturwissenschaftler - auf an die Arbeit!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren