Veranstaltungen zu Polyamorie: Nimm doch alle!

Eine Veranstaltung zu polyamorer Liebe platzt aus allen Nähten. Das Redebedürfnis über die Beziehungsform ist groß, Erfahrungen gibt’s noch wenig.

So ganz einfach ist sie nicht, die Liebe zu vielen Foto: dpa

BERLIN taz | Der Raum der Naturfreundejugend in der Neuköllner Weichselstraße ist übervoll. Und unspektakulär: ein Flipchart und eine PowerPoint, weiße Wände und Plastikklappstühle. Es drängeln sich an die 70 Menschen rein, dann ist Schluss. „Ich bin eine Stunde hierhergefahren“, motzt eine, für die der Platz nicht mehr gereicht hat.

Sie ist nicht die Einzige, die in den kalten Montagabend zurückgeschickt wird – rund 30 Leute ketten ihre Fahrräder wieder ab oder drücken die Ohren an die Scheiben, um doch etwas von dem mitzukriegen, was drinnen besprochen wird.

Es gibt ein offenbar großes Bedürfnis, sich über polyamore Erfahrungen auszutauschen. Und genauso fehlt es in Berlin an Schutzräumen, in denen es einen wertungsfreien Austausch über die eigene Beziehungsform gibt. Denn: Jede Poly-Beziehung ist so unterschiedlich wie die Menschen, die sie gestalten.

Polyamorie ist ähnlich wie „queer“ ein Oberbegriff: für alles, das nicht einer Beziehungsnorm entspricht. Was nicht exklusive Zweierbeziehung ist, kann polyamore Beziehung genannt werden. Das Bedürfnis, Antworten und Tipps zu erhalten, bestimmt auch diesen Abend. Und wird ein wenig enttäuscht.

Noch nicht vom Mainstream infiziert

Auftakt Der Poly-Abend war der Auftakt für die Reihe „Love, Sex & Feminism“ der Naturfreundejugend Berlin.

Nächster Termin: 4. Dezember um 19 Uhr. Dann geht’s um „Pornografie. Schmuddelfilm und Feminismus“. Mehr Infos unter naturfreundejugend-berlin.de. (mf)

Womit Prem und Ann Antidote den Poly-Abend eröffnen, ist dann doch eher Theorie. Prem und Ann leben beide nicht monogam, sie leben generell nicht zusammen. Prem ist Soziologe, und Ann hat einfach Ahnung, weil sie selbst seit mehr als 30 Jahren in Poly-Beziehungen lebe und schon mehrere Poly-Netzwerke gegründet hat.

So stehen die beiden vor der großen Gruppe, betonen den interaktiven Charakter der Veranstaltung – „Fragt alles, was ihr schon immer mal wissen wolltet“, klicken sich durch die PowerPoint und malen Beziehungskons­trukte aufs FlipChart.

„Auch wenn es gerade ein Hipster-Trend zu sein scheint und viele sich deshalb zum ersten Mal damit befassen: Polyamorie ist noch lange nicht vom Mainstream infiziert“, sagt Ann Antidote. Friends with benefits, offene Beziehung, rumficken, Dreieck, ja selbst das glückliche, weil selbstbestimmte Single-Dasein sei eine Form von Polyamorie – weil es nicht monogam ist und damit gesellschaftlich nicht denselben Rückhalt und dieselben Privilegien hat wie die klassische romantisierte Zweierbeziehung.

Dennis ist hier, weil er bis jetzt „nur Hetero-Mono-Beziehungen hatte“ und darüber so empört ist, dass er sich gleich mal die Fingernägel lackiert hat. Josephine plant schon seit einiger Zeit, ein Kind zu bekommen mit einem schwulen Freund. Inga hat festgestellt, dass „Vollzeitjob und polyamore Beziehungen für mich nicht funktionieren“ – also hat sie ihre Arbeitszeit auf 20 Stunden die Woche reduziert. Die versammelte Filterbubble jubelt.

Schwierige Verhandlungen

Zum Erfahrungsaustausch geht es dann in Kleingruppen. Und während 70 Leute im Raum versuchen, das beste Konzept für die Diskussion in der Gruppe auszuhandeln, bekommt man einen Eindruck davon, wie schwierig das sein kann, sich in einer Partner*innenschaft mit mehreren Personen zu verständigen: Vorschlag – Gegenvorschlag – Kompromiss.

Dabei ist gerade dieses Ausdiskutieren in einer polyamoren Beziehung super wichtig, findet Antidote: „In polyamoren Beziehungen können alle Partner*innen grundsätzlich alles hinterfragen. Das fängt bei den klassischen Rollenmodellen an über die sexuelle Orientierung bis hin zu eigenen, ganz persönlichen Grenzen.“ Gerade die zu definieren und transparent zu machen, sei besonders für „Anfänger*innen“ oft ungewohnt und schwierig.

Als die Kleingruppen gesprächsbereit sind, wird es tatsächlich noch persönlich. Es geht um Kinder in Poly-Beziehungen, mit denen noch niemand in der Runde Erfahrungen hat, um Frustmanagement und Grenzensetzen. Oder Unicorn-Hunting: ein heterosexuelles Paar, das nach einer bisexuellen Frau sucht. Der Traum des weißen Cis-Mannes.

Austausch, der auch abseits von Poly-Beziehungsmodellen überfällig und in organisierten Offline-Runden viel zu selten ist, finden die Organisator*innen. „Es braucht mehr Netzwerke, für Emotionen, Informationen und Austausch. Nur das hat mir letztlich geholfen, weil mich Mono-Beziehungen auf Dauer unglücklich gemacht haben“, sagt Prem.

Polyamorie als Privileg?

Dabei gibt es in Berlin schon einen Poly-Stammtisch, Facebook-Gruppen und im Netz ganz viele Artikel zum Thema. „Ein Problem ist dabei sicher, dass auch das Forschungsfeld Polyamorie noch von sehr weißen, sehr privilegierten Menschen behandelt wird“, sagt Prem, nun wieder zurück im versammelten 70-köpfigen Plenum. Und wer sich an diesem Abend umschaut, stellt schnell fest, dass Theorie und Praxis zumindest in diesem Punkt nicht weit auseinanderliegen.

Die Folge: „Ich habe eine Freundin, die ist of Colour. Und sie sagt mir immer wieder, dass sie mit Rassismus- und Flucht­erfahrung den Kopf einfach voll hat“, erzählt eine Teilnehmerin. Polyamorie, ein Privileg für Privilegierte?

„Wie auch immer eine Poly-Beziehung ausgestaltet sein mag: Oft ist sie noch geprägt von monogamen Strukturen und Machtverhältnissen“, gibt Prem mit auf den Weg. Der einzige Ausweg sei, ständig neu zu verhandeln und Grenzen zu definieren. „Aber das ist ja voll anstrengend“, flüstert Jenny und packt ihren Spekulatius wieder in die Tasche.

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