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Venzuela vor der Verfassungsreform"Chávez will mehr Macht"

Wenn Venezuela Chávez Verfassungsreform zustimmt, ist der Weg in die Diktatur möglich. Bis die Wirtschaft unabhängig vom Öl wird, kann es aber noch dauern, so die Wirtschaftshistorikerin Dorothea Melcher.

Aufgeblasener Chavez läd in Caracas zur Abstimmung. Bild: ap

taz: Frau Melcher, worauf zielt Hugo Chávez mit der Verfassungsreform ab, über die die Venezolaner am Sonntag abstimmen?

Bild: Gerhard Dilger

DOROTHEA MELCHER, 66, ist emeritierte deutsch-venezolanische Professorin für Wirtschaftsgeschichte an der Universidad de los Andes von Mérida. Sie lebt seit 1970 in Venezuela. Sie promovierte in Tübingen und forschte über Gewerkschaften, Erdölpolitik und indigene Völker in Venezuela. Mehrere Beiträge zum "Jahrbuch Lateinamerika". Zuletzt erschien von ihr "Venezuelas Erdöl-Sozialismus" (Das Argument 262).

Dorothea Melcher: Er will mehr Macht, um sein sozialistisches Projekt umzusetzen. Dabei stehen ihm einige Bestimmungen der jetzigen Verfassung im Weg, etwa bestimmte Eigentumsrechte an Grund und Boden, auch wenn der größte Teil der Landesfläche Staatsland ist. Der Großgrundbesitz soll abgeschafft werden. Hinzu kommt die völlige Verstaatlichung der Bodenschätze, von Öl und Gas.

Der Ölsektor wurde doch seit 2005 nationalisiert

Es geht nicht nur um den staatlichen Ölkonzern PDVSA, sondern auch um die Dienstleister bei Förderung und Transport.

Um Verstaatlichung unumkehrbar zu machen, ist eine Verfassungsänderung nötig?

Ja. Die Nationalisierung des Ölsektors stört die USA und die einheimische Oberschicht. Das ist kein Wunder, denn die USA, die Konzerne und der IWF haben in den 90er-Jahren massiv Druck gemacht, dass das Öl in Lateinamerika privatisiert wird. Venezuela war damals eine Art Prüfstein. Ab 1998 haben Chávez und seine Leute das systematisch rückgängig gemacht. Die ausländischen Konzerne wurden unter Druck gesetzt und mussten neue Verträge unterschreiben. Die meisten haben eingelenkt und führen jetzt viel mehr an den Staat ab. Doch dies war sehr mühselig. Die letzten Verträge sind erst vor kurzem abgeschlossen worden.

Es gibt viel Kritik an der Art,wie Chávez das Referendum vorbereitet hat. Zu Recht ?

Ja, es wurde regelrecht durch das Parlament gepeitscht, nur wenige Außenstehende wurden miteinbezogen. Zudem - und das ist die Hauptkritik der Opposition - soll die Struktur von Staat und Gesellschaft geändert werden, und das ist in dieser Form verfassungswidrig.

Aber warum riskiert Chávez eine so aufwändige Abstimmung, die zudem der Opposition Aufschwung gibt?

Man merkt, es geht Chávez nicht schnell genug, und deswegen will er auch immer wieder gewählt werden können, damit er sein Projekt ab 2012 weiterführen kann. Er will das Tempo forcieren, aber die Frage ist, ob ihm das gelingt. Es ist unklar, ob er genug qualifizierte Leute hat und ob ihm seine Basis folgen wird - oder was passiert, wenn es langsamer vorangeht oder es ganz zum Stillstand kommt.

Droht nach einem Sieg der Weg in eine Diktatur?

Die Möglichkeit besteht, denn Chávez hätte dann in vielen Bereichen die absolute Verfügungs- und Ernennungsfreiheit. Die Machtbefugnisse verschieben sich von den gewählten Gouverneuren zu den ernannten Vizepräsidenten für die neuen Regionen, in denen die Bundesstaaten zusammengefasst werden. Wer wird die Ausführungsbestimmungen formulieren? Da sind Konflikte vorprogrammiert, auch zwischen den Gemeinderäten und anderen Instanzen. Viele Leute aus seiner Umgebung sind nicht ehrlich bei der Umsetzung der Ziele, die verteilen das Ölgeld wie eh und je.

Welche Art von Sozialismus schwebt Chávez vor?

Er redet viel von Kooperativen, die er zu fördern versucht. Chávez will die landwirtschaftliche und industrielle Entwicklung durch die staatliche Finanzierung von Basisprojekten voranbringen. Es gibt auch Staatsbetriebe, aber wie die funktionieren, wird selten klar.

Ist diese "nach innen gerichteten Entwicklung" denn ökonomisch effektiv?

Nein, die Ergebnisse sind bescheiden. Statt weniger werden immer mehr Lebensmittel importiert. Viele Zuständige in den Ministerien sind ungeeignet für ihre Jobs. Venezuela ist ja immer noch vom Rentenkapitalismus geprägt, von den Einnahmen aus dem Ölexport. Es ist schwierig, diese Mentalität zu ändern.

Und der Geldsegen aus dem Ölgeschäft befördert noch immer die Korruption?

Ja, es bildet sich eine neue Staatsklasse heraus, die sich schamlos bereichert, Gouverneure, aber auch Militärs. Die Vetternwirtschaft von Christ- und Sozialdemokraten ist von der der "Boli-Bourgeoisie" abgelöst worden. Die neuen Leute haben Gleichgesinnte eingestellt, bei Ausschreibungen spielt Sachkenntnis oft nur eine untergeordnete Rolle. Andererseits ist es beispielsweise bei PDVSA immer noch ein Problem, dass es Angestellte gibt, die gegen die Politik des Konzerns arbeiten.

Chávez geißelt ja gelegentlich Korruption und übermäßige Bürokratie. Hat das Folgen?

Selten. Manchmal werden Leute abgesetzt, aber meistens gehen sie straflos aus.

INTERVIEW: GERHARD DILGER

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