Venezuela: Das System Chavez strauchelt
Venezuela bekommt die Abhängikeit vom Erdöl zu spüren. Seitdem die Erdöleinnahmen nicht mehr so reichhaltig sprudeln, muss der Staat die Mittel für Sozialprogramme reduzieren.
Die Löcher in den Regalen der staatlichen Mercal-Supermärkte sind nicht zu übersehen. Huhn ist wie Reis und Nudeln immer öfter nicht zu haben, wenn María Santiago einkaufen geht. Der 44-jährigen Mutter aus dem Armenviertel "Los Erasos" fällt es zunehmend schwerer, die Zutaten für das Abendessen einzukaufen. Im Mercal-Supermarkt heißt es immer öfter: "gibts nicht", wenn die Kunden nach Milchpulver, Mehl oder Speiseöl fragen.
"Die Preise gehen nach oben, und das Angebot wird knapper", klagt die Mutter dreier Kinder, die mit ihrer Familie in einer Baracke lebt. Vom Fenster aus blickt sie auf die mit roten Fahnen gespickte Wellblechlandschaft. In "Los Erasos" dominieren die Anhänger von Hugo Chavéz. Doch Grundlegendes hat sich in dem Viertel in den letzten Jahren nicht geändert. "Zwar gibt es auch bei uns einen Gesundheitsposten, aber Arbeit hat uns Chávez bisher nicht gebracht", klagt ein Nachbar hinter vorgehaltener Hand.
Zehn Jahre ist der charismatische Präsident nun im Amt. Doch trotz lange kräftig sprudelnder Erdöleinnahmen ist die Bilanz nicht allzu rosig. Zwar konnten die Armuts- wie die Analphabetenquote merklich gesenkt werden.
Doch Experten wie der in Caracas lehrende Politikprofessor Friedrich Welsch argumentieren, dass diese Erfolge wenig nachhaltig seien. "Wichtige Indikatoren wie Kindersterblichkeit sind nicht wesentlich gesunken, und wer die Etappen von der Alphabetisierung übers Abitur bis zur Uni absolviert, kommt danach nirgendwo unter, weil an der Qualität der Ausbildung gezweifelt wird", schildert Welsch die Kehrseite der Erfolge von zwei der wichtigsten Misiones Sociales. So heißen die Sozialprogramme der Regierung Chávez. Sie laufen seit 2003 und sollen die Situation in den armen Stadtvierteln verbessern. Finanziert werden die Programme in erster Linie aus den Mitteln des staatlichen Erdölkonzerns PdVSA. Doch dem geht das Geld für die Nahrungsmittelsubventionen im Mercal-Supermarkt, für Gesundheitsversorgung, Bildung und Armenspeisung angesichts der relativ niedrigen Weltmarktpreise für Erdöl aus. Wurden 2007 noch 7,1 Milliarden US-Dollar in die Misiones gepumpt, waren es 2008 laut PdVSA-Statistik nur noch drei Milliarden.
Derzeit bekommt Venezuela die einseitige Abhängigkeit vom Erdöl, die Chávez reduzieren wollte, voll zu spüren. "Um allen Verpflichtungen gerecht zu werden, müsste der Weltmarktpreis für Öl auf 75 US-Dollar pro Barrel klettern", schätzt Welsch. Er liegt mit 68 US-Dollar pro Barrel knapp darunter. Im ersten Halbjahr 2009 brachen die Einnahmen der PdVSA um 55,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr ein.
"Auch Anhänger der Regierung sind schon auf die Straße gegangen, weil der Staat seinen Zahlungsverpflichtungen nicht gerecht wird", sagt Welsch. Er prophezeit weitere Proteste. Denn in den Sozialprogrammen sind auch viele ihrer Anhänger untergekommen. Sie bangen um ihre Jobs in Mercal-Supermärkten und Gesundheitsprogrammen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW