Venezianische Bootskultur im Film: Denn sie wissen nicht, was sie tun

Der Regisseur Yuri Ancarani beobachtet in seinem Film „Atlantide“ eine Motor­boot-Subkultur: Jugendliche in den Lagunen rund um Venedig.

Ein paar von oben an der Spitze eines Bootes

Stille Wasser fließen tief: Szene aus „Atlantide“ Foto: Rapid Eye Movies

Einmal fabulieren Daniele und seine Freundin Maila über eine Redewendung: Wer es gemächlich angehe, der komme weit; wer hingegen schnell mache, steuere in den Tod. Nahezu prophetische Gedanken, beobachtet man die jungen Männer, die der italienische Regisseur Yuri Ancarani für seinen Film „Atlantide“ über mehrere Jahre beobachtet und schließlich in konzentrierter, ästhetisierter Form abgebildet hat.

Recht schnittige Kerle in noch schnittigeren Booten, genannt Barchini, ausgestattet mit leistungsstarken Motoren, Subwoofern und neonfarbenen LEDs. Dazu rollen die Lyrics von Rapper Sick Luke, und Plastikverpackungen von Kinder-Pinguí-ähnlichen Süßigkeiten fliegen durch die Gegend. Gerne steckt man sich auch einen Joint an oder versteht sich aufs effektvolle Vapen.

Der 50-jährige Ancarani weiß, wie man derlei Ausdrucksformen einer doch ziemlich spezifischen Jugendkultur, angesiedelt auf den Lagunengewässern vor und um Venedig, ansehnlich in Szene setzt. Minutenlang sind die Selbstinszenierungen seiner Protagonisten mitzuerleben, Scope-Bilder fassen die Weite der glatten Wasseroberfläche, über die die Boote aufgrund ihrer Geschwindigkeit manchmal hüpfen wie flache kleine Steine, die man genau dafür aus seinem Handgelenk geschleudert hat. Die Namen von Freundinnen werden als Aufkleber auf das Vehikel geklebt und nach Ende der Beziehung wieder abgekratzt.

Venedig aus der Distanz

Als Sehnsuchtsort ist Venedig, aus der Distanz stets erkennbar, doch scheinbar unendlich weit von den Inseln Sant’Erasmo und Pellestrina entfernt, denen Daniele, Maila, Alberto, Jacopo und wie sie alle heißen entstammen. Zwei Sommer hat sich der Regisseur laut eigener Aussage unter sie gemischt und sich dabei auch an die eigene Kindheit und Jugend in der Romagna erinnert – allen voran an die waghalsigen und oftmals tödlich endenden Motorradrennen, die unter dem Namen „Samstagabendmassaker“ firmierten.

„Atlantide“. Regie: Yuri Ancarani. 2021 Italien/Frankreich/USA/Qatar, 104 Min.

„Atlantide“ wohnt damit auch eine gleißende Morbidität inne, ein Exzess unter der Sonne. Nicht selten strahlen die Bilder des Films betonte Ruhe und Coolness aus. Die Gefahr wird aus der Langeweile geboren und dem Versuch, ihr zu entkommen. Zumindest sporadisch artikulieren sich einzig Daniele und seine Freundin Maila, die eine eher glücklose und von einseitig empfundenen Gefühlen geprägte Beziehung führen.

Während Danieles Boot dem der anderen in Sachen Geschwindigkeit unterlegen ist (und noch dazu Benzin ans Wasser abgibt), berichtet Maila von zittrigen Knien, die den Angehimmelten allerdings so gar nicht zu interessieren vermögen. Beide schwappen Kilometer vorm Markusbecken an ihren eigenen Begierden vorbei, während andere ringsum versuchen, das Beste aus der Situation herauszuholen: Open-Airs auf der Insel San Francesco del Deserto zwischen einer Handvoll Mönche, Selfies im Bikini.

Menschenleer und dunkel

In „Atlantide“ gehen Stillstand und Bewegung eine sonderbare Beziehung ein, es prallen die Gegensätze Venedigs so verstörend wie betörend aufeinander. Immer wieder füllen gigantische Kreuzfahrtschiffe das Bild, ist der massentouristische Schwall zu erahnen, der ansonsten jedoch gesichtslos bleibt. Als Daniele, mit einem anderen, schnelleren Motorboot, schließlich doch Venedig erreicht, nachts, mit einer neuen Freundin oder vielleicht nur einer Geliebten für einige Stunden, wirkt die Stadt menschenleer und dunkel.

Einzig die Beats seines Bootes hallen unter den Brücken, unter denen die ausgelassene Begleitung (Schauspielerin Bianka Berényi), auf dem Bug thronend und tanzend, hindurch zu tauchen scheint.

Die schamlose, provokante, laute und triumphale Penetration eines Ortes, an dem man, entsprechend einer Logik des Tourismus, nachts nichts zu suchen hat. Es ist eine der zweischneidigen Feierlichkeiten in Ancaranis Film, der sich klar auf die Seite einer Generation stellt, die sich dem Leben völlig schutzlos preisgibt. Mit freiem Oberkörper und starrer Miene beschleunigen die Männer auf den Barchini auf weit über 80 Stundenkilometer, ein kleiner Fehler, eine Kollision mit einem den im Wasser treibenden, maroden Holzstählen, einer Bricola, könnte den Tod bedeuten. Der Flirt mit der Geschwindigkeit kommt ohne Sicherheitsgurt.

Maskuline Welten

Dabei ist es nicht das erste Mal, dass der Filmemacher dem manchmal zwanghaft anmutenden Treiben maskuliner Welten beiwohnt. In „The Challenge“, einem Dokumentarfilm von 2016, der das Leben unanständig reicher Scheichs in Katar zeigte, transportierte sich die Sucht nach Geschwindigkeit, nach Superlativen, ebenfalls anhand von Fahrzeugen.

Vergoldete Motorräder etwa und weiße Geländewagen, die sich die hohen Dünen emporzwangen und deren Motoren den Sand unter sich zum Schmelzen brachten. Auch animalische Statussymbole schmückten: Geparde, an der Leine und neben sich auf dem Sofa drapiert, Falken, als Reisebegleiter im Privatjet.

„The Challenge“ verstand sich als rein dokumentarische Arbeit, Yuri Ancarani selbst wandelt immer wieder zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem. Eine Mischung, die ihm auch Zutritt zu bedeutenden Galerien und Biennalen verschafft hat. „Atlantide“ generiert seine Kraft indes vor allem aus einer Herangehensweise, die der Regisseur selbst im Spektrum des Dokumentarfilms verortet: die lange und intensive Beobachtung seiner Protagonisten. Aus ihr sei nach und nach die Geschichte entstanden.

Sorgen, Nöte und Träume

Ancarani habe die Gespräche der jungen Leute verfolgt, von ihren Sorgen, Nöten, Träumen erfahren, sie unauffällig und ohne Crew gefilmt. Und tatsächlich ergibt sich der Film auf eine bemerkenswerte Weise, der übliche Drehbuch-Leim fehlt und wird kaum vermisst, einige Szenen wirken kryptisch, können erst im Nachhinein, vielleicht gar nicht verstanden werden.

Yuri Ancarani operiert offenbar mit der Vision eines selbstständigen Publikums, dem man nur wenig Navigation mit auf dem Weg geben muss. Dafür wird es audiovisuell belohnt. Denn die Loslösung von diversen Genre-Konventionen legt einen Möglichkeitsraum frei, in dem nicht nur die Regie unbekümmerter agieren kann – auch als Betrachtender erfährt man eine Erleichterung.

„Atlantide“ bietet die Möglichkeit, sich sehr unmittelbar in ein Universum zu begeben, das fasziniert und existiert, das sich seiner eigenen Echtheit aber nicht laufend selbst versichern muss. Gleichzeitig geht die Stilisierung der leuchtenden, wummernden Motorboote mit einer grundlegenden Ästhetisierung einher, die mitunter überaus mitreißend sein kann.

Eine lange, sehr unheimliche Kamerafahrt gegen Ende des Films dreht die Perspektive auf eine Art, dass die sich auf dem Wasser spiegelnden Brücken Venedigs zu Toren, Pforten, gleichsam fantastischen Gesichtern wandeln, durch die man unaufhörlich zu gleiten scheint. Schlund um Schlund wird man verschluckt, dringt tiefer; ist das Atlantis, fragt man sich irgendwann, haben die vielen Barchini-Kapitäne einen letztlich hierhin geführt?

Dass es sich nur um ein Kippbild handelt, einen gar nicht allzu aufwendigen Kniff, kann für das Vermögen Yuri Ancaranis sprechen, etwas Unwahrscheinliches an einem unwahrscheinlich oft fotografierten Ort ausfindig zu machen. Die Geschichte von „Atlantide“ vollzieht sich tagtäglich vor einer der berühmtesten Kulissen der Welt. Jemand, der quasi von der Bühne aus in die hinteren Reihen guckt, seinen Blick schärft und das Vorgefundene noch einmal in einem ganz eigenen Modus wiedergibt, schafft nicht nur etwas sehr Sehenswertes, sondern auch Außergewöhnliches.

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