Venedig unter Wasser: Schöne Katastrophe
Die Hochwasser in Venedig sind längst zur medialen Kulisse geworden. Die Stadt leidet derweil an ihrer touristischen Übernutzung.
Nichts davon, dass die Menschen in den wenigen verbliebenen Werkstätten (und ja, es gibt in Venedig noch Handwerker und Unternehmer, die Arbeitsplätze geschaffen haben, die nichts mit dem Tourismus zu tun haben!) zu retten versuchen, was noch zu retten ist, Arbeitsmaterial, Lagerbestände. Nichts davon, dass in den Restaurants die Kühlzellen überflutet und Tonnen von Lebensmitteln vernichtet wurden. Alles muss mühevoll mit Süßwasser abgewaschen werden. Auf Knien rutschend versuchen die Venezianer ihre Existenz zu retten.
Dass nur der schöne Schein zählt, wissen die Venezianer seit jener Zeit, als ihre Stadt von einer geschäftstüchtigen Unternehmerclique im Faschismus zur Museumsstadt erklärt wurde. Mit dem Hafen von Marghera wurde der Großraum Venedig geschaffen: das Festland als Schlafstadt für die Arbeiter des Hafens, der Schiffswerften und der Petrochemieanlage von Marghera. Heute leben in Venedig noch 52.000 Venezianer – der Großraum hingegen zählt knapp 260.000 Einwohner. Auch Luigi Brugnaro, Unternehmer und Bürgermeister Venedigs, wohnt auf dem Festland, wo die überwältigende Mehrheit der Stadträte lebt, die Hochwasser offenbar nur aus dem Fernsehen kennen.
In seiner Rede gegen die Venezianer, jene „glücklich in ihrem Wasser faulenden Dummköpfe“, beschied der Futurist Marinetti, dass es besser sei, Venedig zu zerstören, als zuzusehen, wie es zu einer mumifizierten Museumsstadt zum ausschließlich touristischen Gebrauch verkomme. Sein aus Florenz stammender Schriftstellerkollege Giovanni Papini schrieb: „Wir sind Hausmeister in Leichenhallen und Dienstboten exotischer Vagabunden.“
Genau so haben wir uns in der Nacht des 12. November gefühlt, als das Hochwasser stieg und stieg und niemand außer den Social Media davon Notiz nahm. Dort kursierte auch ein bitterböser Post über die venezianische Stadtverwaltung, die im Hochwasser offenbar nichts anderes sieht als ein mögliches Hindernis für Touristen: „Das Hochwasser ist nicht gefährlich, es stellt in der überwältigenden Mehrheit sowohl für die Venezianer als auch für die Touristen lediglich eine begrenzte Unannehmlichkeit dar. Es handelt sich nur darum, sich ein paar Stunden lang zu gedulden, bis das Wasser wieder abgeflossen ist. Den Neugierigen empfehlen wir den Kauf eines Paars Gummistiefel, die es ermöglichen, die Stadt auf bestimmt ungewöhnliche Weise zu erleben.“
Schön wäre es immerhin, wenn sich in den Medien die Erkenntnis durchsetzen würde, dass das venezianische Hochwasser nichts mit dem Regen zu tun hat und auch der Klimawandel in diesem Fall nicht verantwortlich gemacht werden kann – wie es der venezianische Bürgermeister versucht hat, den man in Venedig nur dann sieht, wenn Staatschefs zu Besuch sind oder Fernsehkameras das ikonische Bild vom überfluteten Markusdom filmen.
Venedigs Hochwasser ist das Ergebnis einer neoliberalen Politik, die die venezianische Lagune durch Ausgraben der Kanäle für Erdöltanker und Kreuzfahrtschiffe sowie durch eine sieben Milliarden teure Hochwasserschleuse zerstört hat. Eine Schleuse, die nie funktionieren wird. Dafür wurden Tonnen von Zement in der Lagune versenkt und erinnern – natürlich rein ästhetisch betrachtet – an die Berliner Mauer im Meer. Nicht so schön anzusehen wie der sich im Hochwasser spiegelnde goldglänzende Markusdom.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus