piwik no script img

Valentin Groebner über Sommer am Strand„Früher Müll, heute Melancholie“

Der Historiker Valentin Groebner hat das Reisen erforscht. Er weiß, wann Strände zum Sehnsuchtsort wurden. Aber nicht, wohin er diesen Sommer will.

Bewegungsfreiheit und intensive Körperlichkeit: am Strand von Rio Foto: Pilar Olivares/reuters
Jan Feddersen
Interview von Jan Feddersen

taz: Herr Groebner, der Stilllegung gesellschaftlichen Lebens wegen Corona ist nicht mehr möglich gewesen – auch wegen des nahenden, urlaubsverheißenden Sommers. War die Sehnsucht nach Ferien nicht mehr zu bremsen?

Valentin Groebner: Da wäre ich mir nicht so sicher; das hat wohl auch mit dem kollektiven Gefühl von stark gesunkenem Ansteckungsrisiko zu tun. Aber der Sommer ist natürlich mehr als eine Jahreszeit: Er ist das Versprechen auf Wunsch­erfüllung, Körperglück, Wiedergutmachung. Sommer ist keine Jahreszeit, sondern ein geträumter Zustand. Und der muss vermarktet werden – „mehr Sommer nur für dich“ ist das Versprechen der Fremdenverkehrsindustrie.

Ihr neues Buch heißt „Ferienmüde“. Woher rührt die Reise­unwilligkeit?

Dieser – mein – Befund ist erst einmal sehr persönlich. Die meisten wollen ja weiterhin in den Urlaub. Ich merkte, dass ich keine Lust mehr hatte auf all die Flughäfen, Miet­autos, Ferienhäuser. Das war wie ein Gummibärchen, das über Nacht im Wasser gelegen hatte und aufgequollen war, formlos geworden. Libidoverlust. Also wollte ich herausfinden, woher das kam.

Was ist das Versprechen der Ferien gewesen?

Ich kann nur für mich sprechen: Überrascht werden. Unerwartetes Vergnügen. Etwas ausprobieren, was man vorher so noch nie gemacht hat. Und ich glaube, gutes Reisen hat etwas mit Verstehen zu tun, mit dem Klick im Kopf.

Ist der Meeressaum, der Strand, schon immer das Ziel von Urlaubswünschen gewesen?

Nein, vor dem Beginn des 19. Jahrhunderts ging da niemand zum Vergnügen hin. Historisch gesehen ist der Strand die Zone für den Müll – und der gefährliche Transitraum zwischen Land und Meer, ein eher riskanter und gefährlicher Ort. Das änderte sich erst durch die Industrialisierung. Seitdem es Fabriken gab, im 19. Jahrhundert, fand man den Strand plötzlich schön.

Welche Bilder werden in uns aufgerufen, wenn wir von Stränden fantasieren?

Bewegungsfreiheit und intensive Körperlichkeit. Im Urlaub spielen wir natürlich auch Filme in unseren Köpfen nach, mit uns selbst als Hauptdarsteller und Regisseur in einer Person, und im Film ist der Strand ja seit Langem der Emotions­ort schlechthin – für Liebe, Entscheidung und süße Melancholie.

Bild: Franca Pedrazzetti
Im Interview: 

Valentin Groebner

Historiker an der Universität Lurzern/Schweiz. Im Juni erscheint sein neues Buch „Ferienmüde: Als das Reisen nicht mehr geholfen hat“ (152 Seiten, Konstanz University Press, 18 Euro). Autor wie Interviewer diskutieren im taz Talk: https://taz.de/!171061/

Gibt es ein Ziel, wohin wir alle am liebsten reisen möchten?

Wer ist denn „wir“? Ferien sollen immer einen Mangel ausgleichen. Wohlhabende aus extrem heißen und trockenen Ländern reisen gerne an Orte, wo es ausgiebig regnet. Stadtbewohner reisen aufs Land. Und Provinzler wie ich in die Großstadt. Reisen ist imaginäre Selbstvervollständigung auf Zeit. Bei 1,5 Milliarden Touristen weltweit im Jahr werden diese Geschichten allerdings zwangsläufig zu einer Art Märchenstunde für Erwachsene. Wir glauben an die Wunsch­erfüllung im Urlaub auf ziemlich ähnliche Art und Weise wie an das Christkind, den Weihnachtsmann und den Osterhasen.

Ist Reisen nicht eigentlich auch eine Frucht des Kolonialismus, der europäischen Welteroberung?

Zumindest haben erstaunlich viele westliche Traumdestinationen eine Geschichte, die eng mit dem europäischen Sklavenhandel verknüpft ist, wenn man genau hinschaut – von Venedig über die Kanarischen Inseln bis zur Karibik. Die Gewaltgeschichte liegt sozusagen direkt unter der touristischen Idylle. Mit Ausbeutung und Zwangsarbeit darf aber das Traumziel per Definition nichts zu tun haben, das ist schlecht fürs Marketing. Deswegen kommen die Putzfrauen in den Resorts und Hotelanlagen ja auch nicht im Hotelprospekt vor.

Menschen aus reichen Ländern – wir! – können reisen, Menschen aus jenen Ländern, die wir besuchen, etwa Indien oder Ägypten, nicht so einfach. Sie kommen ohne Visum nicht nach Europa. Sollten wir auf solche Reisen verzichten – aus Solidarität?

Was würde das bewirken, außer dass man sich kulturprotestantisch moralisch überlegen fühlt? Tourismus hat mit Freiheit nicht viel zu tun. Er ist das Ergebnis extremer ökonomischer Unterschiede; und deswegen ist jeder Europäer, der nach Ägypten oder Sri Lanka fliegt, dort wie durch Zauberhand plötzlich sehr wohlhabend. Umgekehrt ist Europa auch für indische Mittelschichten noch immer fast unerschwinglich.

Viele aus unseren Hipster-Kreisen fahren im Wohnmobil durch die Gegend. Ist das nicht wahnsinnig spießig?

Ich bin doch nicht die Geschmackspolizei. Als Historiker würde ich eher sagen: Wir haben es hier mit einer Endlosschleife der sozialen Zeichen zu tun. Zelten im Freien war vor 120 Jahren jugendbewegte alternative Gegenkultur, dann wurde es durch seinen Erfolg kleinbürgerlicher Mainstream, jetzt kann man damit wieder Dissidenz inszenieren. Das ist eigentlich ziemlich lustig anzusehen – ein bisschen wie mit den Bärten.

Reisen ist Teil intensiver Konsumkritik – ist so eine Kritik nicht fade und elitär?

Als Kritiker bin ich eine Art Bauchredner vor Publikum: Ich rede mit mir selbst über meine eigenen Wahrnehmungen. Das wird leicht zur Egofalle. Tourismuskritiker machen sich es häufig einfach, wenn sie die zerstörerischen Wirkungen des globalen Fremdenverkehrs beklagen. Sie heben die eigene Opferrolle hervor, indem sie sich zum Sprachrohr der Erniedrigten und Geschädigten machen. Gleichzeitig demonstrieren sie ihre eigene moralische Überlegenheit. Genau hinschauen ist komplizierter.

Wie verbringen Sie diesen Sommer?

Ehrlich, ich weiß es noch nicht. Ich verschlampe das. Es ist gar nicht so einfach, aus den eigenen Wiederholungsschleifen herauszukommen. Wie organisiert man Überraschungen für sich selbst?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare