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VERZERRUNG

■ „Alltag im All“ im Eiszeit-Kino

Gehen und nicht angekommen. Als wäre der Weg ein Gummiband, das sich bei jedem Schritt genau um eine Schrittlänge weiterdehnt. Oder ist es gar nicht der Weg, der seine Festigkeit verliert, ist vielleicht bloß der Gehende geschrumpft und braucht deshalb für den Weg zum Geschäftspartner, den er gestern in zehn Minuten erreichte, heute Stunden? Oder ist der Zielort verschwunden, aus der Bildfläche gekippt, von der Schwerkraft losgelöst ins All geschossen? Stimmt überhaupt die Richtung? Ist es nicht am wahrscheinlichsten, daß bloß die Zeiger der Uhr am Gelenk des Geschäftsmannes durchgedreht sind? Muß man vielleicht vom Schlimmsten, von einer Revolution im Sonnensystem ausgehen, so daß plötzlich die Sonne ihren Weg, für den sie gestern zehn Stunden brauchte, heute in zehn Minuten zurücklegt? Schritte, Entfernungen, Minuten, Stunden, Raum und Zeit: Etwas in dem System hat seine Konstanz verloren.

„Alltag im All“ ist eine Oper für eine Sopranistin und eine Tänzerin, für die Rolf Baumgart die Musik komponiert und D.Siegel zehn Arien getextet hat. Zusammen mit dem Regisseur Michael Zeyfang haben sie ein Konzepot entwikkelt, in dem sie gar nicht mehr versuchen, die Geschichte vom alptraumhaften Verlust der physikalischen Gewißheiten kontinuierlich zu erzählen. Die Splitter der Geschichte sind vielmehr, der Auflösung der Logik entsprechend, durcheinandergewirbelt.

Dehnung und Raffung der Zeit: während die Tänzerin und die Sängerin im Zeitlupentempo einen langen Weg über die Bühne gehen, markiert die elektronische Ton-Collage einen schwindelnden Wirbel, Zeitlöcher, in nichts impoldierende Entfernungen. Die Atmosphäre klingt wummernd, fauchend; unterbrochene Funkkontakte, Nachrichtenfetzen, unter die sich erste Stichworte der Geschichte mischen, werden aufgefangen: es entsteht ein unheimlicher Sog. In dem Gewirr der Wahrnehmungen sucht man als Zuschauer nach Orientierung: aber jeder Strang, den man aus diesem Knäuel zufällig zuerst aufschnappt, kann schließlich zur verbindenden Linie werden.

Die Arien von Elizabet Neiman gesungen, durchstoßen scharf und kantig, lyrisch und schmerzhaft die Wirbel von Raum und Zeit. Der Gesang demonstriert den Versuch, sich der Auflösung zu widersetzen, sich eines Hier und Jetzt zu versichern. Die Stimme setzt Fixpunkte. Die Tänzerin dagegen (Sonja Romeis) ist in ihrer physischen Materialität den Einbrüchen und Strudeln von Raum und Zeit ausgesetzt. Sie wird durch Versuchsanlagen gehetzt, die den Körper als Organ der Orientierung außer Funktion setzen wollen. Gesang und Tanz gemeinsam bilden die Qualen des Protagonisten ab, der über dem nicht Ankommen seine eigene Identität verliert.

Diese experimentelle Oper ist bisher notgedrungen in Eigenproduktion ohne Förderung entstanden. Die Akademie der Künste erläßt ihnen zwar für die dortigen Aufführungen im August die Miete; klar ist aber noch nicht, wovon sie dort die Bühnentechnik bezahlen können.

Katrin Bettina Müller

„Alltag im All“ im Kino Eiszeit am 22./23./24.Juli um 21 Uhr, in der Akademie der Künste am 9./10./11.August um 20 Uhr.

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