VENEZUELAS OPPOSITION NIMMT EINEN BÜRGERKRIEG IN KAUF: Ausweg: Referendum
Venezuela treibt auf einen Bürgerkrieg zu – und das, obwohl Regierung und Opposition seit Wochen mit internationalen Vermittlern am Verhandlungstisch sitzen, um Gewaltausbrüche zu verhindern. Dabei gäbe es durchaus einen verfassungsmäßigen Ausweg aus der derzeitigen politischen Sackgasse: ein „Misstrauensreferendum“ gegen den Präsidenten des Landes, Hugo Chávez.
Seit seinem ersten Wahlsieg vor vier Jahren hat der eigenwillige Linksnationalist Chávez nie einen Zweifel daran gelassen, dass er seine „bolivarianische Revolution“ als Langzeitprojekt begreift. Durch eine maßgeschneiderte Verfassung und einen zweiten Wahlerfolg im Juli 2002 festigte Chávez seine Position. Nach einer nun möglichen Wiederwahl könnte der jetzige Präsident bis 2012 regieren. Derweil reagierte die traditionelle Führungsschicht des Landes vor Jahresfrist mit ersten Massendemonstrationen auf ihre Entmachtung und die Ankündigung tiefgreifender Sozialreformen. Ein Putschversuch im April scheiterte nach 48 Stunden. Doch der Solidarisierungseffekt der Massen mit dem Präsidenten ist längst verflogen, vor allem weil der politische Stillstand durch eine tiefe Rezession verschärft wird.
Während Präsident Chávez einen freiwilligen Rücktritt kategorisch ausschließt, beharrt die Opposition gerade darauf. Anstatt programmatische und personelle Alternativen zu entwickeln, verweist sie auf die sinkende Popularität des Staatschefs und fordert eine baldige, aber rechtlich nicht bindende Volksabstimmung, die Chávez wiederum mit allen Mitteln zu verhindern trachtet. Im Übrigen: Würde man Umfragewerte als Maßstab demokratischer Legitimität verabsolutieren, könnte wohl kaum ein lateinamerikanischer Präsident seine Amtszeit regulär beenden.
Mit dem jetzigen Streik haben sich erneut die Hardliner im bürgerlichen Lager durchgesetzt. Sie setzen auf eine Gewaltlösung gegen Chávez. Das Stillschweigen des Westens zu dieser Strategie darf dabei getrost – ähnlich wie schon beim Aprilputsch – als Zustimmung interpretiert werden. Damit eine Explosion des Pulverfasses Venezuela verhindert wird, müsste der Opposition von ihren Freunden in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union klar gemacht werden, dass sie sich erst einmal selbst an ihren rechtsstaatlichen Ansprüchen messen lassen muss.
Paradoxerweise bietet dafür gerade die neue Verfassung einen Ausweg: Demnach können sämtliche Mandatsträger wieder abgewählt werden – allerdings erst, nachdem ihre Amtszeit zur Hälfte abgelaufen ist. Gegen Chávez könnte ein solches „Misstrauensreferendum“ demnach im August 2003 eingeleitet werden. GERHARD DILGER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen