VDW-Tagung „Wohin gehen wir - heute?“: Seitenblicke erwünscht
Die Wirtschaft hat die Welt beschleunigt. Die Wissenschaft aber ist zu langsam, zu engstirnig und zu abhängig. Experten fordern eine neue Wissenschaftskultur.
56 Wartesemester bleiben ihm nach eigener Rechnung noch. Dann wäre Student Tobias Orthen knapp 50 und dürfte vielleicht langsam einsteigen, in den wissenschaftlichen Diskurs über Ökologie, Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit. Und darüber, was das eigentlich mit seinem Studienfach Physik zu tun hat.
„Obwohl wir uns gern an der Diskussion der Lösungsvorschläge beteiligen wollen“, sagt Orthen, der an der Uni Kiel im vierten Semester studiert, „laufen die relevanten Diskussionen bisher häufig ohne uns Studierende ab.“
Da seit der Einführung des Bachelor-Master-Systems der Stoff viel geraffter vermittelt wird, können Fragen nach der Verantwortung der Wissenschaft meist nur angerissen werden. Um neben dem Curriculum eine Plattform für Information, Diskussion und Aktion anzubieten, hat Orthen mit Kommilitonen eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen: die Kieler W-Events. Sie beschäftigen sich in Anlehnung an den 2007 verstorbenen Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker mit „Weltethos, Weltinnenpolitik und weltweiter ökosozialer Marktwirtschaft“.
■ Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler wurde 1959 in Berlin von einer Gruppe prominenter Atomwissenschaftler gegründet, unter neben Carl Friedrich von Weizsäcker die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max von Laue. Zwei Jahre zuvor war dieser Kreis einer breiten Öffentlichkeit als „Göttinger 18“ bekannt geworden, als sie sich mit der „Göttinger Erklärung“ gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr aussprachen.
■ Anlässlich des 100. Geburtstags vom VDW-Gründungsmitglied Carl Friedrich von Weizsäcker veranstaltete die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler eine Tagung, die im Wesentlichen der Gliederung der letzten öffentlichen Vorlesungsreihe, die Weizsäcker im Januar und Februar 1997 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München gehalten hatte, folgte.
■ Der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker hat in dem großen Essay „Wohin gehen wir?“ (Hanser, München 1997) versucht, Politik, Religion und Wissenschaft zusammenzudenken, und sie in die Frage münden lassen: Was sollen wir tun?
Deshalb ist Orthen nach Berlin gekommen. Mit dem dreitägigen Podium „Wohin gehen wir heute“ zum 100. Geburtstag Carl Friedrich von Weizsäckers versucht sich auch die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VWD) an die Fragen heranzutasten, die ihr Gründungsmitglied stellte. Was kann, was darf, was soll Wissenschaft – und wer hat heute an ihr teil? Der Tenor der Podien: Das aktuelle Wissenschafts- und Forschungssystem ist zu langsam, zu engstirnig und vor allem nicht auf den kollektiven Erkenntnisgewinn ausgerichtet.
„Wenn die Menschheit die heutige Entwicklung unkorrigiert weiterlaufen lässt, so ist eine Katastrophe so gut wie gewiß“, schrieb Weizsäcker 1997 in seinem Buch „Wohin gehen wir?“. Nicht nur dort reflektierte Weizsäcker über Weltfrieden und mehr Gerechtigkeit - nachdem er zuvor bahnbrechende Forschungserfolge im Bereich der Kernspaltung erzielt hatte, für die er sich zeitweise auch in die Dienste des Naziregimes stellte. Im Buch heißt es weiter: „Wir können das jeweilige Problem grundsätzlich durchschauen […] alle diese Probleme könnten durch gemeinsame intelligente Maßnahmen gelöst werden. Aber die Frage ist, ob die Menschheit zu diesen Handlungsweisen fähig ist.“
BWL ohne Nachhaltigkeit
Dieser Zweifel erweist sich auf dem Forum der VDW mehrfach als hochaktuell, etwa wenn es um die Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften und die der wissenschaftlichen Bildung geht. „Was man weiß, kann man korrigieren“, zitiert Claudia Kemfert den Großdenker. Die Ressortleiterin für Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ergänzt: „Was wir wissen, ist, dass wir aus ökologischer und sozialer Perspektive weit über unseren Verhältnissen leben.“
Doch noch immer sei Nachhaltigkeit nicht bei den deutschen Lehrstühlen für Wirtschaftswissenschaften angekommen, die wie Gläubige an neoliberalen Gedanken festhielten. Und das, obwohl die bestehenden Modelle die Finanzkrise der letzten vier Jahre kaum abbilden können. „Es ist erstaunlich, dass die Wirtschaftswissenschaften nicht in einer Krise sind“, sagt Kemfert.
Was Wissenschaft kann und soll, hängt nicht zuletzt von politischen Entscheidungen, etwa der Kultusministerkonferenz ab. Vor allem bei der Auftaktveranstaltung „Welche Rolle hat die hochschulische Bildung?“ wird das deutlich.
Forschung unter Wettbewerbszwang
Für Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance in Berlin, geht der Trend weg von einer Wissenschaft, die sich an gesellschaftlichen Problemen orientiert und die schneller werdende Welt erklärt. Dafür bräuchte es eine Lehre, die auch Seitenblicke auf andere Fächer zulässt, und eine Forschung ohne den Zwang, ökonomisch verwertbar zu sein. „Stattdessen sind die Studierenden und auch die Forschenden in den vergangenen Jahren in einen Wettbewerb getrieben worden, der das kaum noch zulässt“, sagt Schwan.
So nahm zwischen 1995 und 2010 die Drittmittelquote an deutschen Hochschulen laut Statistischem Bundesamt von 14,5 auf 26 Prozent zu, knapp 70 Prozent davon sind öffentliche Gelder. Während die einzelnen Lehrstühle nun erbittert um die Mittel kämpfen, was sich durch die Exzellenzinitiative seit 2006 noch verschärfte, hatte die Lehre von der Verschiebung von öffentlichen Grund- zu Drittmitteln nichts. Denn Fördermittel werden nur für exzellente Forschung vergeben. „Wir verändern die Hochschullandschaft gerade irreversibel“, sagt Ulrich Bartosch, Vorsitzender der VDW.
Da ist zum einen die thematische Verengung auf für die Wirtschaft interessante Forschungsfelder. Zum anderen sind laut der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft fast 90 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter an deutschen Universitäten befristet angestellt, häufig auf der Basis von projektgebundenen Drittmitteln.
„Weltinnenpolitik“ gebraucht
Abgesehen davon, dass die Unsicherheit die Forschungsqualität dieser Mitarbeiter beeinträchtigt, treibt VDW-Mann Bartosch vor allem eines um: Was bedeutet es, wenn eine solche Abhängigkeit der Forschung von der Wirtschaft besteht? Und „was bedeutet es, wenn wissenschaftliche Mitarbeiter und Universitäten aus finanziellen Zwängen heraus als Unternehmer auftreten und ihre Erkenntnisse geheim halten müssen?“
Dann würde die Wissenschaft der Gesellschaft nicht mehr dienen können, wie Weizsäcker es einmal mit dem Begriff „Weltinnenpolitik“ beschrieben hat: Verschiedene Menschen bringen Erkenntnisse und Ideen zusammen und machen so als Kollektiv die Welt greifbarer und sicherer.
Doch die Universitäten sind nicht das einzige Problem. Jenny Schmithals ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Berliner nexus-Institut. Die studierte Umwelttechnikerin und Soziologin bekam 2002 eine volle und unbefristete Stelle für ihre Forschungsarbeiten im Bereich Sozialökologie. Damit wollte das Institut auch ein Zeichen gegenüber den Hochschulen setzen, sagt Hans-Liudger Dienel, Geschäftsführer des nexus Instituts. Doch wie viel zu tun war und wie lange sie beschäftigt sein würde, hing gleichwohl immer von der Projektlage des als GmbH organisierten Ablegers der TU Berlin ab. „Das bedeutet, dass man ständig nur in der Akquise ist, ständig neue Projekte auf den Weg bringen muss und dafür viel Energie aufwendet“, sagt Schmithals.
Im Jahr 2004 bewarb sich das nexus-Institut gemeinsam mit der TU Berlin mit einem Projektvorschlag für ein Forschungsvorhaben rund um nachhaltige Stadtentwicklung in künftigen Megacities um Fördergelder des Bundesministeriums für Forschung, wozu die Wissenschaftler Kooperationsnetze zwischen Instituten in ganz Deutschland und Partnereinrichtungen im iranischen Teheran aufbauten. Ein zweites Angebot beschäftigte sich mit der indischen Megacity-Region Hyderabad.
In den beiden städtischen Regionen finden sich viele Beispiele für die komplexen Problemlagen in Megastädten: Prognosen gehen von einem Bevölkerungswachstum auf voraussichtlich 10,5 Millionen EinwohnerInnen bis zum Jahr 2015 um Hyderabad aus - ökologische und soziale Schieflagen sind absehbar. Deshalb wollten Schmithals und ihre KollegInnen Strategien erarbeiten, um die Zivilgesellschaft vor Ort zu mehr ökologischem Bewusstsein zu führen.
Zukunftsfragen spielen keine Rolle
Sie erhielten eine lose Zusage des BMBF und gingen in Vorarbeit. Doch nach der vorgezogenen Bundestagswahl 2005, die mit Annette Schavan eine neue Forschungsministerin brachte, standen die Zusagen wieder auf der Kippe. Es sollte einen neuen Schwerpunkt des Ministeriums geben - „ob wir mit ökologischem urbanem Wachstum eine der Zukunftsfragen behandelten, spielte da offenbar keine Rolle“, sagt Schmithals.
Als Institut, das zu Möglichkeiten der sozialen Vernetzung forscht, ist das nexus-Institut hauptsächlich von öffentlichen Drittmitteln abhängig, die es im Fall der Megacities schließlich noch im abgespeckten Umfang bekam. Doch es war eine Zitterpartie. „Wir entwickeln nun mal keine Technik, sondern soziale und ökologische Konzepte“, sagt Schmithals. Für die Industrie ist das nicht interessant - noch nicht.
Schmithals' Bruder studierte ebenfalls Umwelt- und Energietechnik, spezialisierte sich dann aber auf die technologische Komponente. Er ist heute an der Entwicklung von Brennstoffzellen und anderen alternativen Antriebsformen beteiligt,nimmt Aufträge von Firmen wie Airbus an und arbeitet nun bei der Volkswagen AG - um die Ausfinanzierung eines Projektes muss er sich keine Gedanken machen. „Das erlaubt natürlich eine ganz andere Forschungstiefe“, meint Jenny Schmithals.
Wissenschaft lässt die Menschen allein
Fragen im sozialen und ökologischen Bereich in der globalisierten Welt sind sehr komplex, manchmal zu komplex für einen Projektförderzeitraum von drei bis fünf Jahren. Muss die Wissenschaft die Menschen also in einer Welt allein lassen, die sie mit beschleunigt hat?
Stattdessen scheint die Wissenschaft die Menschen in einer Welt alleinzulassen, die sie mit beschleunigt hat. Student Tobias Orthen macht das für sich an zwei Punkten fest. Für die Studierenden wird es immer schwieriger, neben dem straffen Studienplan auch in anderen Themenfeldern nachzuforschen, selbst zu erkunden, interdisziplinäre Probleme zu erkennen. „Dabei können das Verteilungsproblem unserer globalisierten Welt und der Klimawandel nur generationenübergreifend gelöst werden,“ sagt der 22-Jährige, der bereits 2009 als Beobachter an der Unesco-Weltkonferenz Bildung für nachhaltige Entwicklung in Bonn teilgenommen hat.
Das setzte jedoch teilhabende Bildung, nicht Ausbildung voraus. Außerdem sei kaum Raum für transdisziplinäre Einblicke, wie sie die Studierenden nun mit den W-Events an der Uni Kiel selbst planen. Orthen stört vor allem, dass ihm in Diskussionen mit Freunden oder Wissenschaftlern Argumente gegen den Neoliberalismus fehlen. „Ich lese viel zu Wirtschaftsthemen“, sagt der Physikstudent. Doch die Komplexität nehme ständig zu und alles verändere sich rasend schnell. „Hier hätte ich gern etwas mehr Durchblick, auch wenn es nicht mein Fach ist.“
Credits bestimmen Uni-Alltag
Auf der Tagung des VDW hat er die Gelegenheit dazu. Die Zuhörer, unter ihnen auffällig viele Studierende, drängen sich in den Pausen um die Referenten, fragen nach oder bringen Gegenargumente.
„Auch in der Wissenschaft“, sagt Carmen Kaminsky, Professorin für Sozialphilosophie an der FH Köln, „kommen wir nicht ohne mehr philosophische Elemente aus, die uns die Produkte der Wissenschaft selbst erklären.“ Produkte wie zum Beispiel Systeme für Hochfrequenzhandel an den Börsen, an die viel Verantwortung ausgelagert wird. Doch momentan hätten die Studierenden weder Zeit noch Muße dazu.
„Es kann nicht angehen, dass Credits bei den Studierenden und Publikationsanzahl und Drittmittelsumme an den Instituten den ganzen Unialltag bestimmten“, sagt Kaminsky. Stattdessen müsse viel mehr Wert darauf gelegt werden, dass der wissenschaftliche Nachwuchs die Welt begreifen und dann auch verändern könne. Stichwort: wissenschaftliche Bildung.
Damit der Diskurs über eine neue Wissenschaftskultur in Gang kommen könne, müsse die Politik jedoch zunächst finanziellen Druck herausnehmen. „Sonst bekommt unsere Gesellschaft ernsthafte Probleme in der schnellen Welt, in der sie lebt.“
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