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Urwahl Vier Grüne, zwei Plätze: Wer wird Spitzenkandidat für die Bundestagswahl? Darüber stimmt die Parteibasis in diesen Tagen ab. Nur, warum wird dabei eigentlich nicht ernsthaft über Politik, über Mehrheitsverhältnisse und alte Fehler diskutiert? Heißt es auch diesmal, wie 2013: Augen zu – und untergehen?Irgendwie, irgendwer, irgendwas

Robert Habeck, Katrin Göring-Eckardt, Anton Hofreiter, Cem Özdemir (von links) Foto: Julian Stratenschulte/dpa

Von Peter Unfried

Er, Robert, solle sich doch jetzt mal vorstellen, er sei ab kommenden Oktober Bundesvorsitzender der Grünen. Sagt der Bundesvorsitzende der Grünen zum stellvertretenden Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein. Was er denn dann so tun würde? Man kann im Gesicht von Robert Habeck sehen, wie er versucht, die Abgründe auszuleuchten, die hinter dieser Frage lauern.

„Ich will deinen Job nicht, Cem“, stöhnt er schließlich.

Er will einer der beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Bundestagswahl 2017 werden, genau wie Özdemir. Und nicht Mülltonne der Partei. Deshalb ist er kurz vor Weihnachten bei diesem Urwahlforum im Kursaal von Stuttgart-Bad Cannstatt. Neben Özdemir und Habeck bewerben sich auch die Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter, bei neun über Deutschland verteilten Foren um die Spitzenkandidatur. Zwei der vier werden den Job bekommen, ein Mann, eine Frau. Göring-Eckardt hat als einzige Frau ihren Platz sicher. Alle Parteimitglieder sind stimmberechtigt, am 17. Januar wird das Ergebnis verkündet.

Özdemirs Frage an Habeck läuft offenbar darauf hinaus, dass er die männliche Spitzenkandidatur als seinen Job sieht. Mit Anschlussverwendung in der nächsten Regierung. Und für Habeck plant er gleich mit?

Özdemir, 51, ist ohne Zweifel auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Politikerlaufbahn. Nach der verlorenen Bundestagswahl 2013 galt er in der Partei als erledigter Fall. Im eigenen Realo-Flügel als einer, der nichts auf die Reihe kriegt. Aber dann kämpfte er sich zurück, und die Zeitläufte kamen ihm dabei entgegen. Erdoğan, Einwanderung, Armenien, Aleppo – das sind seine Themen. Özdemir spricht für die Bundespartei und richtet sie teilweise auch aus. Seit einigen Wochen ist er unter den Top Ten im Spiegel-Ranking der bekanntesten Politiker angekommen. Ob beim Parteitag oder bei einer Demo in Berlin gegen den Krieg in Syrien: Wenn die Fernsehjournalisten ihn sehen, ist er ruckzuck von Mikros umzingelt. Es versteht sich von selbst, dass er sich als logischen und richtigen Spitzenkandidaten sieht.

„Verdammt noch mal!“

In Stuttgart sagt Habecks Blick jetzt: Du willst es so, Cem. Und dann redet er über etwas, das von den Bundes-Grünen möglichst ignoriert wird. Dass nämlich die realen bundespolitischen Entscheidungen der Grünen von den Landespolitikern getroffen werden: über den Bundesrat. Donnerstagabends treffen sich die in den Ländern regierenden Grünen am Kamin des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann in dessen Berliner Vertretung. Da mischt Habeck, 47, an vorderer Stelle mit. Aus seiner Sicht ist er kein Landespolitiker ohne bundespolitische Erfahrung. Sondern der Grünen-Kandidat, der die deutsche Politik der letzten Jahre in der Verantwortung am meisten mitgeprägt hat.

Doch da ist auch noch Anton Hofreiter, 46, der Kandidat des linken Funktionärsflügels. In den Albträumen der Realos gewinnt am Ende er, weil Özdemir und Habeck sich die Stimmen wegnehmen. Hofreiter wird in einer breiteren Öffentlichkeit – das mag politische Menschen erschüttern – nach wie vor wahrgenommen als „der mit den langen Haaren“; noch immer empfehlen ihm Leute einen Friseurbesuch. Es ist ein Ausweis von Hofreiters Charakter, dass er sich dem standhaft verweigert.

In einem vereinfachenden Denken steht Hofreiter für eine Koalition mit SPD und Linkspartei, Özdemir für ein Bündnis mit der Union. Linke sagen, Özdemir werde bei Merkel alles unterschreiben, um in der Regierung zu landen. Er dementiert. Realos sagen, Hofreiter stehe dafür, dass Grün grün bleibt, also nicht in der Lage ist, über die Kernzielgruppe hinaus Wähler zu gewinnen. Er sieht das anders.

Bei Parteitagen und Urwahlforen punktet Hofreiter indes immer besonders, wenn er die globale Nord-Süd-Ungerechtigkeit anprangert oder sich in Wallung wider die Herrschenden bringt, die sich bei ihm aus einem CSU-Trauma speist. Hofreiter stammt aus Sauerlach, südlich von München, und politisierte sich im Widerstand gegen die bayerische Staatspartei. Eigentlich hat er sich ein staatsmännischeres Sprechen antrainiert. Aber: Wenn er doch wieder „Verdammt noch mal!“ ruft, brodelt dann nicht der Saal?

Während die anderen endlich regieren wollen – „Mit Grün ist besser als ohne Grün“ lautet die Losung –, muss Hofreiter für seine Leute oppo­si­tio­nel­le Hoch­ethik und vernünftiges Machtmanagement repräsentieren, was nicht einfach ist.

Der Unterschied zwischen seinem Vorgänger Jürgen Trittin und ihm sei, sagt ein Realo-Strippenzieher, dass Trittin, der gescheiterte Spitzenkandidat von 2011, Brücken abreiße. Während Hofreiter welche aufbaue. Es gibt nur eine Brücke, die die Realos auf keinen Fall wieder aufgebaut sehen wollen – und das ist die von der Macht zu Trittin, der für den nächsten Bundestag wieder antritt.

Das macht Hofreiter unverzichtbar, er ist die Firewall.

Robert Habeck, Doktor der Philosophie, Doktor der Philosophie, vormals Schriftsteller und Hausmann, ist Außenseiter, was Grüne ja lieben, und dennoch in einer schwierigen Situation. In Schleswig-Holstein ist er als Energiewendeminister und Protagonist der Koalition mit der SPD und dem Süd­schles­wig­schen Wählerverband ein Big Shot. Aber das Bundesland hat nur 2.300 Grünen-Mitglieder. Özdemirs Landesverband Baden-Württemberg hat 9.300, allein 15 Prozent der insgesamt 61.000.

Wenn er eine Chance haben will, muss er sich als Alternative und pragmatisch-idealistischer Vertreter der elf regierenden Landesverbände positionieren, gegen ein Berliner Grünen-Establishment, das seit der verlorenen Bundestagswahl 2013, bei der die Grünen klar unter 10 Prozent fielen, nicht richtig in die Gänge gekommen ist. Darf aber dabei nicht unsympathisch wirken, denn Sympathie ist sein Grundkapital. Das hemmt ihn. Wenn er mal streng schaut, sagen sie ihm hinterher, dass das jetzt aber nicht gut war.

Freiheit und Green New Deal „Die doppelte Aufgabe für die Grünen lautet in dieser Situation, die liberale ­Demokratie zu verteidigen und die ökologische Modernisierung voranzutreiben“Ralf Fücks, KoVorsitzender der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung

Özdemir positioniert sich als Staatsmann und Primus inter Pares der kandidierenden vier. Er verteilt ab und zu ein Chef-Fleißkärtchen und hat immer die Deckung hoch. Solange keiner der beiden anderen Männer einen Wirkungstreffer landet, gewinnt er, so sein Kalkül.

Was einem normalen Menschen seltsam vorkommen muss: Es wird bei diesen Urwahlforen, bei denen es um die Besetzung der Spitzenkandidaturen geht, kaum ernsthaft über Politik diskutiert. Mehr so im Talkshow-Sound. Auf eine Bestandsaufnahme der Lage verzichtet man weitgehend. Kein Thema etwa ist, wie Kanzlerin Merkel mit ihrer dialektischen Flüchtlingspolitik – „Wir schaffen das“ sagen und zugleich Asylgesetze verschärfen kann – die Barriere ins Grünen-Lager niedergerissen hat; dass sie nun dort Fans hat, jetzt aber die zeitweise verlorenen CDU-Stammwähler und die CSU wieder einsammelt. Gabriel, Wagenknecht – kein Thema. Es wird – zumindest bei den Urwahlforen in Erfurt und Stuttgart – auch nicht über den Erfolg des Grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann gesprochen, der die Partei mit sich, dem linken CDU-Feind Winfried Hermann und dem Freigeist Boris Palmer sehr breit aufgestellt hat.

„Ooch, das interessiert die Leute hier nicht so“, sagt Katrin Göring-Eckardt nach einer Veranstaltung in Erfurt.

Eine bemerkenswerte Lässigkeit, wenn man bedenkt, dass Kretschmann, Habeck, Tarek Al-Wazir in Hessen und andere die Grünen über den Kamin zu einer Kraft gemacht haben, die kein Anhängsel des jeweiligen Koalitionspartners mehr ist, sondern über den Bundesrat als selbstständige Kraft mitbestimmt. Und wenn man sich erinnert, dass die Grünen den letzten Bundestagswahlkampf eher gegen als mit Kretschmann geführt hatten. Fixiert auf die Idee, man müsse möglichst homogen sein. Mit dem bekannten de­sas­trö­sen Ergebnis.

Bei Parteitagen spielen sie das Spiel auch regelmäßig. „Die sitzen da und hoffen, dass er sie provoziert, damit sie sich aufregen können“, sagt ein Wegbegleiter Kretschmanns.

Die Frage, ob das 2017 wieder so kommt, führt auf steilen Stufen hoch über die baden-württembergische Landeshauptstadt in die Villa Reitzenstein, den Sitz des Ministerpräsidenten. Zuletzt hatten einige schlecht geschlafen, einschließlich des Chefs, als dessen Wechsel ins Bundespräsidentenamt drohte. Für die Bundesgrünen wäre es – unfreiwillig, da Kretschmann als Angela Merkels Kandidat ins Spiel kam – der maximale Coup gewesen; in Baden-Württemberg dagegen ein Glücksfall für die Kretschmann-traumatisierte Landes-CDU.

Es gibt derzeit keine Grüne Ministerin, der man Verteidigung oder gar Ausbau der Position als größte Partei zutrauen würde. Aber die CSU hätte de Nominierung eines Grünen als Unions-Kandidat kaum mitgetragen – denn es gibt eben auch keinen CDU-Spitzenmann, der den CSU-Kollegen Seehofer in München davon überzeugen konnte, dass ein Kretschmann in Berlin ein Segen für die Südschiene der Union gewesen wäre. Es gibt nur Thomas Strobl, Innenminister und Bundesvize.

Die Stimmung im Staatsministerium ist zurückhaltend. Erst mal Urwahlergebnis abwarten. Dann wird man auch sehen, ob die beiden gewählten Spitzenkandidaten Kretschmann als eine Art dritten Mann wollen und seine Prominenz aushalten können.

„Ich kämpfe mit mir“

Kretschmanns Leute können sich schon vorstellen, dass er mit auf ihn zugeschnittenen Themen in diesen Wahlkampf zieht. Aber dann darf man es vermutlich nicht machen wie beim jüngsten Parteitag, als Kretschmann den Daimler-Chef einladen ließ und dann Zeter und Mordio geschrien wurde. Sondern man müsste ein halbes Jahr lang diszipliniert die Schnauze halten, wenn Kretschmann sich als Protagonist einer kommenden Wirtschafts- und Mobilitätsmoderne positioniert.

Für wen der Ministerpräsident bei der Urwahl stimmt? Darauf gibt es auf Anfrage eine klare Antwort: Wahlgeheimnis. Die naheliegende Annahme wäre Özdemir: Schwabe, Rea­lo und Bundestagsvertreter des Wahlkreises Stuttgart. Aber erstens weiß keiner, ob es Özdemir nutzen oder schaden würde, wenn Kretschmann ihn unterstützte. Zweitens gibt es auch Stuttgarter Spitzengrüne, die in echte Gewissenskonflikte kommen. „Cem oder Robert: Ich kämpfe mit mir“, sagt ein Landesminister. Sie respektieren Özdemirs erstaunliche Entwicklung, aber sie schätzen auch Habeck als Energiewende-Politiker und Kaminstrategen.

Kretschmann hat im Frühjahr bei seinem zweiten Wahlsieg einen noch größeren Teil der Gesellschaft gewonnen als 2011, beim ersten – weil er von der marginalisierten Linkspartei bis zu den modernen Konservativen wirkte, die die CDU beim Versuch verlor, die AfD kleinzuhalten. Die Grünen gewannen 30,3 Prozent und zwei Drittel aller Wahlkreise. Davor galt Hans-Christian Ströbeles Kreuzberger Direktmandat als Weltwunder. In Baden-Württemberg gibt es jetzt 46 Ströbeles.

Nicht nur die SPD als Fortschrittspartei abzulösen, sondern auch die CDU als Wohlstandsbewahrungspartei, ist ein kultureller Sprung, der sich vollziehen konnte, weil der Ministerpräsident eine Allianz für die EU und die liberale Gesellschaft schloss, die in der Theorie auch die sozialökologische Modernisierung der Wirtschaft mainstreamfähig macht. Damit hat er die alten Volksparteien abgelöst, wie das auch dem Grünen Alexander Van der Bellen bei der österreichischen Bundespräsidentenwahl gelang. Die Erfindung einer neuen Sozialpolitik fehlt, aber dafür geht es Baden-Württemberg vermutlich zu gut.

Die einen wollen endlich regieren, die anderen müssen oppositionelle Hochethik repräsentieren

Wie hat Kretschmann das geschafft? Wollen wir das im Bund? Kein Thema bei den Urwahlforen.

Nur, von der gesunkenen Relevanz der EU-Grünen mal abgesehen: Jenseits von Stuttgart sind bei den 13 Landtagswahlen seit 2013 fast überall Prozente verloren worden. Bei der Bundestagswahl landete man mit Trittin, Göring-Eckardt und einem so­zial­demokratischen Angebot bei 8,4 Prozent (minus 2,3 Punkte). Gerade auch in jenen Ländern verlor man krachend, in denen man in die Gesellschaft hineingewachsen schien. In Bremen stand man 2011 bei fast 23 Prozent, 2015 bekam man noch 15; in Rheinland-Pfalz hatten die Grünen fast 16 Prozent, 2016 haben sie noch knapp 5. Na ja, die Erfolge waren ein Ausnahmehoch wegen der Atomkatastrophe von Fukushima 2011, heißt es reflexartig.

Offenbar gibt es schon auch viel Grünes Gewurschtel in manchen Ländern. Vor allem aber fehlt im Oppositionsnirvana in Berlin der zeitgemäße Überbau für das Regieren. Manche wirken fast froh über den Aufstieg der rechtspopulistischen AfD, weil es die eigene Position scheinbar klarer macht. Doch mit Gesinnungsradikalisierung als Antwort auf eine Gesinnungsradikalisierung kann man maximal schön twittern und sich bei einem Parteitag in folkloristische Stimmung schunkeln. Aber keine Brücken bauen, die von zwei Seiten begehbar sind. So haben die vier Berliner Protagonisten Özdemir, Göring-Eckardt, Hofreiter und Simone Peter in Münster auch das Gerechtigkeitsinstrument Vermögensteuer für den Wahlkampf versenkt. Einen Bundespräsidenten durchzubringen, wäre sicher die ganz hohe Kunst gewesen. Es schien jedenfalls nicht unmöglich. Am Ende wurde weder Kretschmann aufgestellt noch der andere, der als Kandidat der Grünen in der Diskussion war, Navid Kermani.

Was ist der bundesgrüne Überbau in der jetzigen Weltlage? Ralf Fücks ist Kovorsitzender der Böll-Stiftung, des Grünen-nahen Thinkthanks. Er ist jetzt 65, im Sommer hört er da auf. Jetzt ballen sich die Termine, er hat aber Zeit für ein Mittagessen in Berlin-Mitte, zu dem er im traditionellen Intellektuellen-Schwarz kommt. Fücks kämpft seit Jahren für eine „grüne industrielle Revolution“ (Green New Deal) als Fortsetzung des Wohlstandsversprechens und Schadensbegrenzer der Erderwärmung und der damit zusammenhängenden Verwerfungen.

Aber Fücks’ neues Buch, dessen Fahnen er gleich noch korrigieren muss, heißt nun: „Freiheit verteidigen“. Der Titel sagt schon, was ihn umtreibt. Wie umgehen mit der Gefahr einer Erosion der demokratischen Mitte und ihren liberalen gesellschaftspolitischen Errungenschaften? Das ist für ihn die vordringlichste Aufgabe, ohne dass er sein großes Thema aus den Augen verloren hätte. Für Fücks lautet die doppelte Aufgabe der Grünen nun, „die liberale Demokratie zu verteidigen und die ökologische Modernisierung voranzutreiben“.

Fücks redet über die Dinge, über die bei den Urwahlforen viel geschwiegen wird. Er stellt überhaupt nicht infrage, dass die Partei einen eigenständigen Pol bilden muss, im Gegenteil. Aber er will die Grenzen der koa­li­tionspolitischen Flexibilität kennen. „Die Offenheit nach allen Seiten endet da, wo es um die außenpolitische Verlässlichkeit der künftigen Bundesregierung geht“, sagt er. Für ihn meint das ein klares Bekenntnis zur EU, zur Westbindung und zur Nato. Die Verantwortung für den Zusammenhalt des Westens sei mit Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten nach Berlin gerückt. Das beinhalte auch eine klare Haltung zu Russland, also gegen Putins autoritäre Politik nach innen und außen. Das, sagt Fücks, seien Essentials, die nicht zur Disposition gestellt werden dürften – und zwar in keiner Regierungskonstellation.

Irgendwann würden sich viele potenzielle Wähler fragen: Gehen die Grünen am Ende mit Sahra Wagenknecht gegen Angela Merkel? Und je nach Antwort würden sich dann manche fragen, ob sie nicht sicherheitshalber lieber Merkel wählen. Er selbst steht eindeutig näher an der Kanzlerin als an der Frak­tions­vorsitzenden der Linkspartei, das ist bekannt. „2017 geht es vor allem um die Frage, wie wir die offene Gesellschaft verteidigen und Europa zusammenhalten. Dafür muss man die demokratische Mitte stärken“, sagt er. Ansonsten plädiert er vehement für ein eigenes sozialpolitisches Angebot der Grünen als Alternative zu SPD und Linkspartei: den Vorrang für „öffentliche Güter“, also den Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur.

Von den Kandidaten ist der Flensburger Habeck derjenige, der Eigenständigkeit und Regieren am deutlichsten unter einen neuen grünen Überbau zu stellen versucht. Dafür hat er eigens zur Urwahl das Manifest „Wer wagt, beginnt“ geschrieben. Die Entkopplung von Wohlstand und Ressourcenverbrauch – der grüne Kern – sei nicht im trutzigen Widerstand gegen die stumpfe Mehrheit zu erringen, schreibt er. Man brauche, wie auch für die Verteidigung von Demokratie und Freiheit, die Mehrheit. Grün sei nicht mehr nur die „Öko-App“ oder gar der „Ankläger der Gesellschaft“. Grüne seien jetzt die „Vertrauensleute der Gesellschaft.“

Im Verlauf der Urwahl werden sie in Habecks Lager nervös, weil sie den Eindruck haben, dass seine Textbausteine sich vervielfältigen. Auch Katrin Göring-Eckardt entwirft in Stuttgart wie selbstverständlich das Bild einer Partei, die sich an 80 Prozent der Bevölkerung wenden müsse.

Die Urwahl

Verfahren: Wer bis zum 1. November Parteimitglied wurde, kann mitentscheiden, mit welchen SpitzenkandidatInnen die Grünen bei der Bundestagswahl 2017 antreten. Die Wahl läuft bis 13. Januar.

Personen: Gewählt werden zwei KandidatInnen, darunter muss eine Frau sein. Neben Katrin Göring-Eckardt kandidieren Robert Habeck, Anton Hofreiter und Cem Özdemir.

Geschichte: Eine Urwahl des Spitzenduos fand bei den Grünen erstmals vor der Bundestagswahl 2013 statt. Damals lagen Jürgen Trittin und Göring-Eckardt vor Renate Künast und Claudia Roth.

Göring-Eckardt, 50 Jahre, 23 davon hat sie in der DDR gelebt, hat mit einer mutigen Bewerbung beim letzten Mal die alten Führungsfrauen Renate Künast und Claudia Roth abgelöst. Sie hat sich durch kluge Organisation einer flügelübergreifenden Fraktionsmehrheit konkurrenzlos gemacht. Ihre große Stärke bisher war, dass den Grünen an ihren Konkurrentinnen mehr missfiel als an ihr.

„Wir brauchen Mut“

Man wird selbstverständlich nur von anderen hören, dass sie sich sorge, ein schwaches Ergebnis zu bekommen, das ihren Führungsanspruch im Wahlkampf und einen herausgehobenen Regierungsjob danach gefährden könnte. Aber sie passt schon auf, dass niemand einen Grund findet, sie nicht zu wählen. „Wir brauchen Mut“ ist ein klassischer Göring-Eckardt-Satz.

Vielleicht ist das einfach auch ihre Stärke: Sie kann Macht managen, gebührend ernst schauen, gut dosiert feinen Humor und die Worte „Frauen“ und „Mauer“ einfließen lassen und so reden, dass am Ende der Eindruck bleibt, es habe ganz vernünftig geklungen. Womöglich ist sie auch ein Faktor für die Wahl des anderen Spitzenkandidaten. Mit Hofreiter wäre sie ein funk­tio­nie­rendes, aber farbloses Fraktionsduo. Mit Özdemir gäbe es ein Musterpaar grüner Bürgerlichkeit. Mit dem New Kid Habeck wäre sie eine Elder States­woman. (Ja, Entschuldigung, aber so wird das geflüstert.)

Göring-Eckardt, sagt ein grüner Stratege, sei ein positives Signal für die Wähler aller anderen infrage kommenden Parteien: „Mit der kann man koa­lieren.“ Aber das Problem ist, sie weiß es vom letzten Mal: Erst mal braucht man Spitzenkandidaten, mit denen einen genug Leute zum Koalieren wählen.

Die Frage ist also jetzt überhaupt nicht, mit wem man koaliert, sondern wie man es plötzlich auf 13 oder 14 Prozent schaffen will, damit man überhaupt in die Lage kommt und vor allem auch groß genug ist, die berühmten eigenen Inhalte durchzusetzen. Also: Welcher Spitzenkandidat bringt das Zusätzliche ein und ist stark genug, Super-Kretschmann einzubinden und gleichzeitig Paroli zu bieten?

Am Ende dieses Jahres deutet wenig auf einen Grünen Wahlsieg. Und mehr auf ein trotzig-mutloses Business as usual und die vage Hoffnung, es werde schon irgendwie. Das nächste große Erlebnis in unserem Leben, schreibt Benjamin Stuckrad-Barre für die Generation 40plus, wird unser Tod sein. Genau so fühlt sich Bundesgrün derzeit manchmal an.

Peter Unfried, 53, ist taz-Chefreporter und engagiert sich gegen den Schwabenhass

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