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Urhorde. Orphisch

Ein ödipaler Grenzfall: Einar Schleef regiert Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ in Berlin  ■ Von Elke Schmitter

Die Zivilisation hebt nach Freud bekanntlich mit dem Vatermord an: Die Urhorde, bestehend aus tatkräftigen Brüdern mit Schlagstock und scharfem Gebiß, ermordet gemeinschaftlich den Vater und bereitet sich aus dessen Resten ein Mahl („Totem und Tabu“ in einem Satz).

Die Erfindung der Kultur wird ähnlich verlaufen sein: Die Urhorde, hier bestehend aus klugen Kindern mit Hauptrabauke, inszeniert das Stück des Vaters und bittet zum Abendmahl geladene Gäste („Die Geschichte des Theaters“ in einem Satz).

Der Vater heißt seit Mittwoch Rolf Hochhuth, die Urhorde ist das Berliner Ensemble, und der Hauptrabauke trägt den schönen Namen Einar Schleef. Wie es sich für einen ordentlichen ödipalen Konflikt gehört, hat Vater Laios ihn vorausgesehen und dem Sohn einen Schwellfuß verpaßt: Schon vor der Tat hat er dieselbe öffentlich warnend verworfen und die Horde schließlich abgestraft mit Nichterscheinen. Und, wie es die Sage will, hat es ihm nichts genutzt: Die zur Speisung geladenen 533 Gäste, des Dramas Publikum, haben genossen und applaudiert. Symbolische Handlungen kommen mit ebensolchen Gegenständen bestens aus.

Es ist bedauerlich, aber nicht vom Schwellfuß zu weisen, daß die griechisch-männliche Vorgeschichte der Uraufführung von Rolf Hochhuths „Wessis in Weimar“ das Interessanteste an der Sache ist. Der Konflikt ist paradigmatisch, Stück und Inszenierung sind seiner nicht wert. Da Behauptungen dieser Art, wo nicht bewiesen, so doch veranschaulicht werden sollen, sei das Bein hier wie folgt geschient: Das Stück thematisiert die wirtschaftliche Übernahme der DDR durch die BRD samt ihrer menschlichen Folgekosten und besteht vornehmlich aus eindringlicher Schlichtheit verpflichteten Dialogen in der bekannten Hochhuthschen Eleganz, welche die freie Versform mit dem unfreien Verhältnis zum Sinnlichen zuverlässig verlötet: „Ich darf das nicht zu Ende denken“, sagt da der Bauer zu sin Fru, „sonst hänge ich mich/ noch auf: Acht Pfennige hat man uns/ für den Quadratmeter bezahlt/ – acht Mark kassiert der Schornsteinfeger!/ Zu deutsch: Für einmal Kaminpflege habe ich/ mit einhundert Quadratmetern Bauernland bezahlt,/ das uns zweihundert Jahre gehört hat./ Das ist die Gerechtigkeit der Wessis!“ (usw.)

Gespickt ist das Stück mit längeren politischen Erwägungen in Aufsatzform, die sich mit der Einrichtung der Treuhand, dem Geheimdienst Ost und West, der Grundstücksenteignung und ihrer juristischen Begründung sowie anderen Problemen befassen, die mit Fug und Recht (und beides ist für Hochhuth wesentlich) als öffentlich unzureichend diskutiert, strukturell ungerecht und sogar gewalttätig gelten dürfen. Bei dem, was auf der Bühne daraus wird, handelt es sich, alles in allem, um eine Kompromißbildung aus Brechtschem Lehrstück, Weissschem Polittheater und Hochhuths aktuellem Kenntnis- und Urteilsstand. Soweit des Dramas erster Akt.

Zur Posse wird das Stück, wenn ein solcher Text – den jedes Schülertheater emphatisch und erfolgreich mit verteilten Rollen lesen kann, weil weder die individuell- psychologische noch die ästhetische Dimension für den hier angezielten Erkenntnisgewinn die allergeringste Bedeutung haben – einem Regisseur überantwortet wird, der vor allem Thaeter machen will: Einar Schleef ist nämlich einer von solchen, die ihren Beruf als Berufung verstehen. Und das heißt im Männertheater der achtziger und neunziger Jahre vor allem: das große Spektakel, der liberale Umgang mit dem Text und die Ästhetik der Überschreitung (mit Vorliebe in den Unterleib). Dieser Eigensinn des Regisseurs als Autor führt dann dazu, daß derselbe aus dem (ungekürzt tatsächlich unspielbaren) Text eine Collage macht, die er mit reichlich Bildungsgut – von Schiller über Goethe bis zum armen B.B. – zwar nicht verbessert, aber „bereichert“. Die so entstandene kalte Platte wird in ihrer ganzen kulinarischen Pracht nicht von Personen, sondern von Gruppen abgegessen, deren größter Ehrgeiz es zu sein scheint, durch martialische Nacktheit (Penis über behaartem Bein und schwarzem Stiefel) die Sprache Hochhuths ihrer Blöße zu überführen. Sofern Individuen noch agieren, wird der Mensch als seiner selbst nicht bewußtes Spaltprodukt von Hirn und Hormon präsentiert. Da ist es folgerichtig, daß der Beamte Klein beim Diktat (allein im Büro) heftig onaniert, und daß der Bruderkampf der Deutschen durch eine Sexualpraxis analisiert wird, vor der die Aids- Hilfe schon lange warnt.

Der Schleefsche Eigensinn führt aber auch zu unerwartet hübschen Ergebnissen: So ironisiert er die Rechtfertigungsfloskelei der zweiten Enteignung souverän mittels einer goldblonden Dame – in schwarz-rotes Tuch gewandet –, die mit gewinnendem Lächeln und affirmativer Betonung Justitia zur Fernsehansagerin macht; so läßt er die Vereinigungsopfer mit nackten Beinen Revue passieren und in der Souffleusenversenkung verschwinden... Hätten Schleef und Hochhuth sich verständigen können, hätte also Schleef seine Autoreneitelkeit gezügelt und Hochhuth seine dramaturgische Bescheidenheit erkannt: der Beginn einer wunderbaren Freundschaft wäre nicht ausgeschlossen. So allerdings...

Hochhuth ist ein Aufklärer und in seinen Mitteln bekanntlich eher beschränkt als wählerisch: ein Lyriker ist an ihm trotz entsprechender Produktion wahrhaft nicht verlorengegangen, als Prosaist ist er von fast unerreichter Einfallslosigkeit (nur nichts trinken ist trockener), und als Dramatiker ist er eher Schausteller von Positionen als Darsteller von Personen. Nicht nur sein instrumentelles Verhältnis zur Sprache, sondern vor allem seine pedantischen Regieanweisungen charakterisieren ihn als Feind des Lebendigen: Hochhuth hat wirkungsvolle Stücke geschrieben, aber er traut dem Theater nicht. Für dieses Mißtrauen wird er programmatisch und naturgemäß gestraft, wann immer er an einen wie Schleef gerät – also an einen Regisseur, der auf die Überwältigung des Ästhetischen setzt und der nicht die Erziehung des Menschengeschlechts, sondern dessen Entzündung im Sinne hat. Trotz aller Querelen im Vorfeld, trotz einer der Uraufführung beigegebenen „Entgegnung“ Hochhuths auf Schleefs Dramatisierung haben Laios und Ödipus immerhin Größe bewiesen: Der Mordbube gibt das Testament des Vaters, die Textfassung des Stücks, dem Premierenpublikum frei an die Hand. Und Hochhuth schließt seine Erklärung zum Vatermord selbstbewußt und manifestös: „Einar Schleef hat ,Wessis in Weimar‘ zertrümmert und verfälscht. Er zeigt Chöre statt Individuen. Meine Menschen dürfen nicht sprechen, sondern müssen skandieren. Die Wahrheit ist aber nicht symbolisch. Sie ist konkret.“

Alles Lüge. Hochhuth hat Menschen gar nicht vorgesehen, und auch die Sprache ist nur Mittel zum Zwecke der Information. Die aber war konkret, was Schleef mit Lässigkeit ignoriert. Ödipus ist angekommen und hat den Beifall auf seiner Seite. Laios war nicht dabei: er besuchte an diesem Abend in seiner Eigenschaft als Weltkritiker das Schiller-Theater in Berlin. Symbolisch bekommt die Wahrheit immer recht.

Rolf Hochhuth: „Wessis in Weimar“. Nicht autorisierte, aber per „Entgegnung“ genehmigte Uraufführung am Berliner Ensemble am 10.2. 1993. Regie: Einar Schleef. Die nächsten Aufführungstermine: tägl. bis 28.2. (außer 15. und 25.2.). Die nächste Inszenierung des Stückes: Hamburg, Ernst- Deutsch-Theater, Premiere am 25.2. Regie: Yves Jansen (danach tägl. bis 5.4.).

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