Unveröffentlichte Songs von Lou Reed: Demotape aus den Flegeljahren
Das Album „Words & Music, May 1965“ enthält Songs von Lou Reed, aus der Phase vor Gründung von Velvet Underground. Taugen sie was?
Eines hat sich Lou Reed zum Glück abgewöhnt: das Mundharmonikasolo vor der jeweils letzten Strophe. Diesen Manierismus des (vor allem) frühen Dylan scheint er in seinen Pre-Velvet-Tagen noch fest im Programm gehabt zu haben. „Words & Music, May 1965“ ist ein Fund aus seinem Nachlass, aufgenommen sechs Monate vor dem ersten Velvet-Underground-Auftritt, sieben Monate vor der Begegnung mit Andy Warhol.
In jenem Mai hat er Songs, die er damals für fertig hielt, mit seinem Freund John Cale als Begleiter und zweite Stimme auf Band aufgenommen und sich anschließend das Tape selbst per Post zugeschickt – das ließ er dann ungeöffnet. Wäre es mal zu Streitigkeiten gekommen, hätte er qua Poststempel beweisen können, schon im Mai 1965 „I am Waiting for the Man“ aufgenommen zu haben.
Dabei sind gut die Hälfte der Songs dieser Session nie auch nur in die Nähe eines solchen Disputs geraten – anders als andere aus dem Katalog von Velvet Underground, bei denen die Anteile von John Cale und Sterling Morrison immer mal wieder zu Unrecht runtergestuft oder getilgt worden waren – Reed hat sie nie wieder verwendet. „I am Waiting for the Man“ und „Heroin“ sind die einzigen, die es auf ein (das erste) Velvet-Underground-Album geschafft haben, auch wenn sie in ihrer lagerfeurig-präpotenten Aufgeregtheit noch wenig von der Coolness abstrahlen, für die sie später berühmt werden sollten.
Dass „Pale Blue Eyes“ in einer, bis auf den Refrain mit der später auf dem dritten Album veröffentlichten Fassung unidentischen Version immerhin als Projekt schon rumorte, verursacht zumindest eine Augenbrauenbewegung bei Velvet-Philologen. Die rührende, nahezu feministische Ballade „Men of Good Fortune“ hat hingegen mit dem gleichnamigen Track auf „Berlin“ gar nichts zu tun.
„Pale Blue Eyes“ rumorte schon
Lou Reed: „Words & Music, May 1965“ (Light in the Attic/Cargo)
Der „Buttercup Song“ wär noch zu erwähnen: eine gewitztes, erwachsenes Kinderlied, das vor emotionalen Beziehungen mit Männern, Frauen, Tieren und Dingen warnt – der Rest musste sich noch nie vor irgendwelchen Copyrightdieben in Sicherheit bringen. Fragt sich, was gestandene Velvetologen und die durch Todd Haynes’ famose Doku vom letzten Jahr neu hinzu rekrutierten Fans aus diesem Tape lernen können.
Wie und wann kam es zu dem Schritt vom um Understatement allenfalls bemühten, durchweg eher aufgekratzten und viel zu frischen Greenwich-Folk-Style zu jener grandios zelebrierten Passivität, zu tausendjähriger Müdigkeit, Lob des Masochismus, zum Aufstieg von Noise und Rhythmusgitarre und antikalifornisch-nihilistischer Ungesundheitsperformance?
Angewidert näselnd
Im Mai 65 gibt es davon gerade mal exakt zwei, eher winzige Spuren: Zum einen ist es der Ton der Ansage, die Lou Reed vor jeder Aufnahme macht. Er spricht den Titel und sagt dann „Words and music by Lou Reed“, dabei prononciert er so näselnd, arrogant und angewidert, dass man sein späteres, öffentliches Ego schon ahnen kann. Oder er überspielt die Peinlichkeit der Inbesitznahme dieser Lieder in Anwesenheit des seit einem halben Jahr besten Freundes John Cale, mit dem er seit Kurzem auch als Nachfolger Tony Conrads in einer WG lebt.
Die andere Spur sind die beiden trotz wacker klampfender Begleitung inhaltlich aus dem rotwangigen Folk-Abend herausfallenden Heroin-Lieder, „Waiting for the Man“ und „Heroin“. Den Entschluss, diese, bereits ein Primat des Wartens, Geschehen-Lassens, Sich-Hingebens, das Genießen von Machtlosigkeit und Überwältigung feiernden Songs zu schreiben, weist auf die neue Bandidee hin, für die Cale und Reed im Mai 1965 nur noch keine passende Soundidee hatten.
Was aber all die Rezensent:Innen und Pressestatements, die sich über die seinerzeitige Folk- und Dylan-Nähe Reeds wundern, vergessen zu haben scheinen: Zwei Monate später wird schon wieder eine Session in der Ludlow Street aufgezeichnet, diesmal ist noch Sterling Morrison dabei.
Die Sacher-Masoch-Paraphrase
Doch was da im Juli 65 entstand, ist seit fast 30 Jahren bekannt; die zahllosen Takes von wieder „Waiting“, „Heroin“, nun aber auch schon die Sacher-Masoch-Paraphrase „Venus in Furs“ (gesungen von Cale), „All Tomorrows Parties“ und einem weiteren Protestsongnachzügler namens „Prominent Men“ erschienen als erste der fünf CDs der „philologischen“ Velvet-Gesamtausgabe-Box „Peel Slowly and See“.
Ich hatte vor knapp 27 Jahren die Ehre, diese Box für die taz unter dem Titel „Banane mit Fußnote“ zu rezensieren und schrieb schon damals über die ganz frühen Aufnahmen, sie klängen „folkig-klimprig“ und wie „Simon & Garfunkel mit einem dekadenten Stich“. Dabei verhalten sich die Juli-Songs zu den jetzt aufgetauchten zwei Monate älteren Takes schon wie Oscar Wilde zum Fähnlein Fieselschweif.
Ein Beispiel für das Entwicklungstempo und die produktive Intensität zwischen Reed, Cale und Morrison ist das dritte Lied, das auf beiden Session-Tapes dokumentiert ist: „Wrap Your Troubles in Dreams“ – John Cale singt es, das heißt er rezitiert es im Mai relativ hilflos zum italowesternhaft „bedrohlichen“ Klopfen auf dem Gitarrenkorpus in Zeitlupe: eine achtminütige Quälerei.
Schöngeistig, etwas dekadent
Zwei Monate später hat Cale dann eine Idee, wie man den Song singen kann, theatralisch, schöngeistig und etwas dekadent. Zwei weitere Jahre später kriegt Nico das Lied für ihr Debütsoloalbum, wo es richtig strahlen kann, umschmeichelt von einem plüschig-luftfeuchten Streich- und Flötenarrangement von Larry Fallon. Cale singt dann auch mit viel Ausdruck in der Juli-Session „Venus in Furs“ in mehreren Takes – vielleicht zu alteuropäisch für Lous Geschmack.
Für das erste Velvet-Werk holt der sich den Song zwar zurück, doch Cale übersetzt nun so nachdrücklich wie in keinem anderen Arrangement seine Minimal-Drone-Viola in den neuen Kontext. Sterling Morrison erklärt, dass man mit „Venus in Furs“ den paradigmatischen Velvet-Sound, die perfekte Mischung gefunden hat, die Formel, die im Mai noch fehlte – von da aus konnte man auch ganz andere Sachen machen.
In musikalischen Begriffen ist dieser Schritt nur schwer in seiner Tragweite zu beschreiben. Die Akkordwechsel bleiben die gleichen oder von der gleichen Sorte. Man hätte das immer noch alles so auch im Village vortragen können. Eigentlich lässt die kleine Männertruppe also nur das Dylanisieren sein und das Klampfen hinter sich, weiß aber nicht gleich, was stattdessen hilft.
Velvet Underground: Mehr als zwei Mentalitäten
Brandon Joseph hat in seiner Tony-Conrad-Biografie plausibel argumentiert, dass man Velvet Underground nicht einfach nur linear als die Addition zweier Mentalitäten, des walisisch-US-Avantgarde/Minimal-Komponisten John Cale und des trocken scharfen, sarkastisch straßenrealistischen New-York-Literaten Lou Reed beschreiben kann.
Als vor den Lagerfeuersessions Reed noch im Jahre 64 als Haussongwriter für Pickwick Records trashige Party-Rock-Singles schreiben und teils auch einspielen musste, wurde für einen dieser Songs eine Band gesucht, die den Novelty-Aggro-Dance-Craze-Song „The Ostrich“ live repräsentieren musste: Für The Primitives wurden dann die drei Freunde Tony Conrad, der später weltberühmte Land-Art-Künstler Walter De Maria und John Cale, den Reed dabei kennenlernte, rekrutiert, weil sie auf einer Party die einzigen Langhaarigen waren.
Sie hatten alle wenig Investments in diese Band: Cale und Conrad machten noch hauptberuflich siebenstündige Drone-Sessions mit La Monte Young, De Maria war eher amüsiert. Der Job war ja auch eher lässig – ultrasimple Party-Songs, die man nicht kannte und nicht übte, auf Schulfesten und Mall-Eröffnungen zum Besten zu geben.
Wie der Name schon sagt
Doch eines entwickelten The Primitives: Die Band nahm ihren Namen ernst, die alle auf eine Note gestimmten Gitarren erinnerten sie an La Montes Minimalismus und sie ließen ihre Gigs immer häufiger in wilde Schrei- und Hampelorgien auslaufen – man hört das auch auf der überlieferten Aufnahme von „The Ostrich“ oder auf einer leider unveröffentlichten Übungssession, die Walter De Maria mitgeschnitten hat. An der Westküste nannte man das zwei Jahre später „Freak Out“.
Joseph argumentiert, dass hier ein anderer Wohngenosse der legendären Ludlow-Street-Kommune einflussreich war: Jack Smith, dessen queerer Underground-Klassiker „Flaming Creatures“ mit seinem wilden Gequieke und Gekreische als Orgiensoundtrack im selben Jahr (1964) rauskam – und unmittelbar unter Conrads und Cales Augen entstand.
Meine These wäre: So wie unverhofft am lustvollen unteren Ende des Rock-’n’-Roll-Biz angekommen zu sein, den Vieren eine Art wahren Kern der Stumpfheit offenbart hat, eine komabesoffene Transzendenz, eine queere Essenz des Trash-Party-Rock, so ist Reed und Cale auf ähnliche Weise die Chance zu einer anderen Wahrheit im zur maskulinistischen Selbstgerechtigkeit tendierenden Protest-Folk klar geworden: Den narzisstischen Kern des politischen Rechthabens isolieren und als näselnde, passive Pose freilegen, der die großen Einsichten der Poesie einfach widerfahren, die sie nicht blöde wollen und aktiv hervorbringen muss.
Es mag geholfen haben, dass Dylan damals genau denselben Prozess durchmachte: vom Protestsänger zu der Figur, der etwas Poetisches widerfährt, die nicht will, sondern geschehen lässt. Auf der CD-Fassung von „Words & Music, May 1965“ gibt es noch ein- bis zweiminütige Bonus-Schnipsel bis zurück ins Jahr 58, darunter auch zwei Dylan-Fragmente, eine Instrumentalversion von „Baby, Let Me Follow You Down“ und eine Strophe von „Don’t Think Twice (It’s Alright)“. Der Schritt von Mundharmonika zu verspiegelter Sonnenbrille war an der Zeit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles