Unterwegs mit einer Sozialarbeiterin: Zwischen Idealismus und Realität
Überlastung und Kürzungen belasten den sozialen Bereich. Auch die junge Sozialarbeiterin Noelle Nachlik aus Münster hat damit zu kämpfen.
Ein Sitzkreis mit schwarzen Stühlen, ganz viele bunte Karten mit Erdmännchen drauf und ein Paar Boxhandschuhe: Heute geht es um Gewalt. Noelle Nachlik ist Sozialarbeiterin in der Straffälligenhilfe bei dem Verein sozial-integrativer Projekte (ViP) in Münster. Gerade bereitet sie das Anti-Gewalt-Training für Jugendliche vor. Noelle ist selbst erst Mitte 20, nah dran an den Menschen, mit denen sie arbeitet.
Zu Beginn soll es um Gefühle gehen. Ein Erdmännchen auf den Karten schaut wütend, eins lacht drauflos, und noch eins ist ganz verwirrt. Anhand der Karten sollen später die Jungs, die unter anderem wegen Körperverletzung verurteilt wurden, ihre Gefühle beschreiben. Es geht auch um ihre Werte und Biografien. Denn viele gewalttätige Jugendliche waren zuvor selbst Opfer von Gewalt.
Neben dem Anti-Gewalt-Training bietet der Verein in Münster unter anderem einen Täter-Opfer-Ausgleich an. Hierbei helfen die Sozialarbeiter:innen sowohl Opfern als auch Täter:innen, die Tat zu verarbeiten. Mal gibt es ein klärendes Gespräch zwischen den Beteiligten, ein anderes Mal gibt der Täter dem Opfer einen Döner aus.
Bewährtes Konzept in Gefahr
Wie viele andere Projekte im sozialen Bereich ist auch der Täter-Opfer-Ausgleich der freien Träger in Nordrhein-Westfalen von Sparmaßnahmen bedroht. Für die Klient:innen könnte dadurch ein seit fast 30 Jahren bewährtes Konzept für einen Austausch in unserer Gesellschaft wegfallen.
Neben Kürzungen bei der Finanzierung sozialer Beratungs- und Hilfsangebote beschreibt Noelle populistische Argumentationen als eine große Herausforderung in ihrem Alltag: „Es kommt immer zum großen Aufschrei, wenn es um Straftaten geht, gleichzeitig werden Maßnahmen im sozialen Bereich gekürzt, die Menschen aus der Straffälligkeit helfen.“ Für die junge Sozialarbeiterin passt das nicht zusammen. Noelle erzählt, dass die Stigmatisierung sowohl für ihre Klient:innen als auch für die Sozialarbeiter:innen eine große Belastung sei.
Dieser Text ist Teil des Projekts taz Panterjugend: 26 junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren, Nachwuchs-journalist:innen, -illustrator:innen und -fotograf:innen, kommen im Januar 2025 zu digitalen Seminaren zusammen und im Februar zu einer Projektwoche in die taz nach Berlin. Gemeinsam entwickeln sie zur Bundestagswahl Sonderseiten für die taz – ein Projekt der taz Panter Stiftung.
An der Hochschule hat Noelle Soziale Arbeit studiert. Die Realität ihrer Arbeit beschreibt sie als einen Praxisschock. „Also eigentlich dachte ich ja, zumindest Sozialarbeiter:innen sind cool“, sagt Noelle. Aber dann sei sie in die Praxis gekommen und habe gemerkt: In anderen Institutionen hätten Kolleg:innen aufgrund von Überlastung „komplett ihre Werte und ihre Haltung als Sozialarbeiter:innen verloren“.
Junge Menschen müssen gehört werden
Auch Noelle selbst steht unter Druck: „Der ganze Wald brennt, und man steht die ganze Zeit nur vor einem kleinen Busch und versucht, ein kleines Feuer zu löschen.“
Noelle wünscht sich vor allem einen starken Sozialstaat und mehr Mitbestimmung. Aus diesem Grund engagiert sie sich politisch, unter anderem in einer Gewerkschaft. Politisches Interesse bemerkt sie auch bei ihren Klient:innen: „Ich sehe bei den Jugendlichen in Zeiten des Rechtsrucks, dass sie eine Meinung haben. Ihnen zuzuhören und sie zu empowern macht mir riesengroße Freude“.
Noelle betont, wie sinnstiftend die soziale Arbeit sei und dass ihr Erfolgsgeschichten immer wieder Hoffnung geben: zum Beispiel wenn Jugendliche mit einem Berg Schulden endlich einen Ausbildungsplatz bekommen.
Auch deshalb sagt Noelle am Ende: „Trotz der ganzen Herausforderungen und Überlastungen bin ich unfassbar glücklich. Ich habe den besten Job der Welt.“ Diesen Idealismus einer jungen Sozialarbeiterin möchte Noelle nicht verlieren.
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