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Unterwegs mit Sozialarbeiter:innenWohnungslos in der Krise

Die Coronakrise trifft Wohnungslose besonders hart. Sozialarbeiter:innen in Leipzig suchen sie auf, um sie zu unterstützen.

Obdach- und Wohnungslose haben keine Lobby, nicht im Winter und nicht zu Coronazeiten Foto: Karsten Thielker

Leipzig taz | Hinter einer Brachfläche am Leipziger Hauptbahnhof, stadtauswärts, einen steilen, matschigen Trampelpfad entlang, liegt das sogenannte Hexenhaus. In dem ehemaligen Bahngebäude haben sich Menschen einen Unterschlupf gebaut. Vor dem Eingang stehen Einkaufswagen mit Kleidung, die Fenster sind von innen mit Brettern verschlagen, an der Tür haben die Bewohner:innen ein Schloss angebracht – wenigstens ein kleines bisschen Schutz vor Kälte und Eindringlingen. An der Tür steht auf einem Schild: „Von 0–12 Uhr keine Störung erwünscht. Sonntag Ruhetag!“

Helen Matzke klopft einige Male erfolglos an die Tür aus Pressspanplatten. Sie und ihr Kollege Markus Hörold sind Stra­ßensozialarbeiter:in­nen u­nd kommen regelmäßig an diesen Ort. Sie kennen die Menschen, beraten sie, bringen Essen vorbei, helfen bei Behördengängen. Die beiden sind Teil des „Teams Wohnen“ der Straßensozialarbeit für Erwachsene (Safe), die im Suchtzentrum Leipzig angesiedelt ist.

Fast täglich laufen sie durch das Gebiet um den Leipziger Hauptbahnhof. Am Hexenhaus haben sie heute keinen Erfolg. Einige hundert Meter weiter, in einem kleinen Park gegenüber dem Bahnhof, kommen sie mit einer Gruppe Männer ins Gespräch, die sich gerade Witze erzählen. Auf der Bank neben ihnen stehen einige Bierflaschen und ein Pfefferminzschnaps. Matzke und Hörold bieten den Männern Äpfel und Brötchen an und fragen, ob sie sie unterstützen können.

Ein junger Mann mit glasigen Augen, der sich nur mit dem Vornamen Nico vorstellt, zieht sich die Atemmaske über den Mund. Immer wieder verrutscht sie. Sein Blick geht zu zwei Beamt:innen in Uniform, die ihre Runden drehen. Laut Coronaverordnung gilt Maskenpflicht im Innenstadtring.

Es gibt einen generellen Mangel bei der ärztlichen Versorgung von Wohnungslosen

Markus Hörold, Sozialarbeiter

Nico zuckt mit den Achseln. Er sagt, er trage den Mundschutz nur, damit er keinen Ärger kriege. Angst vor dem Virus habe er nicht. „Es gibt hier doch kaum Todesfälle, an Erkältung sterben viel mehr Leute.“ Ein anderer Mann pflichtet ihm bei: Corona sei eine große Lüge. Er kenne viele, die infiziert waren und gesagt haben, das Virus sei nicht schlimmer als eine Grippe.

Für viele Wohnungslose ist es nicht das Virus selbst, das ihnen Angst bereitet, sondern die sozialen Folgen, die damit einhergehen. Nico sagt, er warte seit Monaten auf das Geld vom Jobcenter. Tatsächlich steigt seit dem im März verabschiedeten Sozialschutzpaket die Zahl der eingehenden Anträge auf Grundsicherung beim Jobcenter massiv an. Die Streetworker von Safe kennen das Problem. Viele ihrer Klient:innen berichten von langen Wartezeiten und von Anträgen, die ewig nicht bearbeitet würden. 27 Prozent mehr Arbeitslose gibt es gegenüber dem Vorjahr.

Der Mann, der neben Nico steht, rote Arbeiterhose, Sicherheitsschuhe, sagt, er habe zwar eine Wohnung, habe jedoch wegen Corona seinen Job verloren. Sein ehemaliger Arbeitgeber, eine Veranstaltungstechnikfirma, sei pleite gegangen. Nun arbeite er für eine Zeitarbeitsfirma in einer Druckerei. Ein öder Job, wie er sagt, „aber wenigstens muss ich da keine Maske tragen“.

Amüsiert beäugt er die zwei Beamt:innen in Uniform, auf deren Rücken man nun den Schriftzug „Polizeibehörde“ erkennen kann. „Das ist gar nicht die Polizei, sondern das Ordnungsamt“, sagt einer. „Die haben sich kürzlich umbenannt.“ Ein anderer erwidert: „Dann haben die ja gar nichts zu sagen.“ Die anderen lachen.

Häufig sind es nicht die Beamt:innen, die den Wohnungslosen helfen, sondern Streetworker wie Matzke und Hörold. Oftmals geht es vor allem darum, dass ihnen jemand zuhört. Wenn Helen Matzke mit einem Klienten redet, der auf dem Boden sitzt, dann kniet sie sich vor ihn, um ihm auf Augenhöhe zu begegnen. Sie sagt, die Zeit des Lockdowns sei vor allem für Frauen sehr schwierig gewesen. An vielen Orten waren sogar die öffentlichen Toiletten geschlossen, der letzte Rückzugsort für viele Frauen, beispielsweise, wenn sie menstruieren.

„Schnorren“ ist schwerer geworden

Schon gleich zu Beginn ihres Arbeitstags treffen die zwei in der Innenstadt auf einen ihrer Klienten, der gerade von drei Polizist:innen kontrolliert wird. Der junge Mann sitzt vor der Sparkasse auf dem kalten Boden mit einer Kappe, in der er Geld sammelt. Wenn jemand kommt, hält er ihnen die Tür auf, wünscht einen schönen Tag.

„Das Schnorren“ sei schwerer geworden, sagt Marcel, der nur seinen Vornamen nennt. Die Abstandsregelungen würden dazu führen, dass weniger Leute ihm Geld geben, zudem würden weniger Leute kommen, weil die Bars geschlossen sind.

Marcel ist erst 18 und erst seit Kurzem wohnungslos. Von der Polizei werde er ständig kontrolliert, sie wolle ihn „nur abfucken“, sagt er. „Warum sonst kontrollieren sie nur mich und einen Schwarzen, sonst aber niemanden?“ Ein Polizist sagt, die Auswahl der Personen sei nur „Zufall“ gewesen, seine Kollegin will sich erst gar nicht erklären, zieht ihn weg und verabschiedet sich. Marcel meint, wären die Sozialarbeiter:innen nicht dagewesen, wäre nicht nur sein Ausweis, sondern all seine Sachen kontrolliert worden – so wie in letzter Zeit häufiger.

Der Umgang mit Wohnungslosigkeit wird vor allem ordnungspolitisch geregelt. Zwischen Parkbänke, auf denen sonst Menschen nächtigen, werden Lehnen gebaut, auf öffentlichen Plätzen werden Metallstachel angebracht, die Menschen vom Verweilen abhalten sollen. Was jedoch an vielen Stellen fehlt, sind die sozialpolitischen Maßnahmen.

Quarantäne auf der Straße?

In der Coronakrise verschärfen sich die medizinischen Probleme. „Es gibt einen generellen Mangel bei der ärztlichen und Pflegeversorgung von Wohnungslosen“, sagt Hörold. Viele Menschen, die auf der Straße leben, haben eine Suchtproblematik, sind als chronisch Kranke im Falle einer Covid-19-Infektion einer erhöhten Gefährdung ausgesetzt. Eine Studie der Universität Kalifornien kommt zu dem Schluss, dass die Gefahr einer chronischen Lungenerkrankung bei Obdachlosen zwei bis drei Mal höher ist als bei dem Rest der Bevölkerung.

Doch was passiert, wenn eine wohnungslose Person sich mit Covid-19 infiziert? Matzke glaubt, „es würde einfach untergehen“. Es gebe kein richtiges Konzept für Corona und Wohnungslose, weder vom Sozial- noch vom Gesundheitsamt. Viele ihrer Klient:innen hätten jetzt, in den kalten Tagen, bereits Erkältungssymptome.

Falls eine Person etwa durch einen Krankenhausaufenthalt positiv auf das Virus getestet werden sollte und in Quarantäne müsste, dann ist das nur schwer umzusetzen, wenn die Person keinen festen Wohnsitz hat. Da die Kosten für einen Coronatest bei den Krankenkassen liegen, die meisten Wohnungslosen aber keine Krankenversicherung haben, müssten Vereine die Kosten übernehmen, die ebenfalls auf städtische Förderung angewiesen sind.

Es fehle generell an einer aufsuchenden ärztlichen Versorgung gezielt für Wohnungslose, die über ehrenamtliche Tätigkeiten hinausgeht, sagen die Sozialarbeiter:innen. Es bräuchte Pflegebetten für Wohnungslose, wie es sie etwa in Städten wie Frankfurt am Main und Hamburg gibt. Zudem kritisieren Hörold und Matzke, dass die Übernachtungshäuser für Wohnungslose bis September noch ganztägig inklusive Essensausgabe geöffnet und die Tagesgebühren bis Juli ausgesetzt waren – diese Regelung nun aber nicht mehr gelte. „Obwohl es jetzt auch noch kalt wird.“

Ende Oktober wandte sich die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke, öffentlich an die Politik und forderte von Kanzlerin und Ministerpräsident:innen, die neuen Coronabeschlüsse auch im Hinblick auf die Lage Wohnungsloser zu beachten.

Erfolglose Forderungen

„Es müssen sofort wieder zusätzliche Hotel- und Pensionszimmer, Jugendherbergen, eventuell auch leerstehende Ferienwohnungen angemietet werden, um eine Belegung unter Wahrung der Abstandsregeln zu ermöglichen“, so Rosenke. „Bund und Länder sollten dafür unbürokratisch zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung stellen.“

Bislang ist die Forderung ohne einheitlichen Erfolg geblieben. In manchen Städten wie Nürnberg oder Hamburg stellt die Stadt zusätzliche Unterkünfte bereit. Leipzig beruft sich auf Anfrage darauf, dass es eine Einrichtung für Obdachlose in Leipzig gibt, in denen eine Quarantäne in Containern möglich wäre. Eine ganztägige Öffnung der Unterkünfte sei derzeit nicht geplant, ob man Hotels oder ähnliches anmieten müsse, werde sich mit der Kälte zeigen, so eine Sprecherin.

Die Kälte ist auch ohne Corona jedes Jahr die größte Bedrohung für Wohnungslose. Im Winter 2018/2019 sind laut der Bundesarbeitsgemeinschaft für Wohnungslosenhilfe deutschlandweit 12 Obdachlose durch niedrige Temperaturen gestorben. Für die Streetworker heißt es in der kalten Jahreszeit immer: Schlafsäcke organisieren, Tee verteilen, die Nummer des Kältebusses weitergeben.

Von den Hilfsaktionen wie Gabenzäunen, an denen während des ersten Lockdowns an vielen Orten Menschen Essen oder Hygieneartikel spendeten, ist heute nur noch wenig zu sehen. „Am Anfang gab es eine große Welle der Solidarität“, sagt Matzke. „Aber jetzt sind alle wieder mehr bei sich.“ Wegen der drohenden sächsischen Haushaltskürzungen ist auch der gesamte Dresdner Ableger von Safe in Gefahr. Trotz kommender Kälte und steigenden Infektionszahlen werden die Wohnungslosen damit zunehmend alleine gelassen. Oder, wie Nico es sagt: „Uns hat niemand darüber informiert, was hier eigentlich gerade passiert.“

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1 Kommentar

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  • Die Versorgung von Menschen ohne festen Wohnsitz in Leipzig, ist mehr als mangelhaft. Schön, dass es endlich mal Erwähnung in der Presse erfährt. Es gibt weder ein kostenloses Mittagsessen noch genügend Schlafplätze. Und die wenigen Schlafplätze die es gibt, werden gemieden, aufgrund diverser Ängste. Es ist für einige Menschen unzumutbar derzeit in Sammelunterkünften zu übernachten, da einige Angst haben sich mit Corona zu infizieren. Es ist für einige Menschen, auch unabhängig der Pandemie unzumutbar, in Sammelunterkünften zu übernachten - weil sie Angst haben vor Übergriffen oder weil sie einfach nicht mit vielen Menschen in einem Raum zusammenschlafen können. Dazu kommt: Von der Stadt Leipzig angepriesen Notschlafplätzen von 170 (laut Webseite der Stadt), entfallen gerade mal 20 Plätze für Frauen*! Und wer kann es geraten? Diese sind immer ausgebucht. Als Frau* in Leipzig ohne festen Wohnsitz zu sein, ist nicht nur auf Grund - das diese Personengruppe auf der Straße einer größeren Wahrscheinlichkeit gewalttätiger Übergriffe ausgesetzt sind - schwieriger, sondern auch, weil die Stadt Leipzig, die Bedürfnisse/ Situationen von Frauen* negiert. Und vor allem, an welche Notschlafstelle soll sich eine Trans* - Person wenden? Zusätzlich gibt es in Leipzig ein Problem mit der Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung. Es gibt ein Angebot. 1X in der Woche für 2 Stunden, können Menschen von einem Arzt behandelt werden - ansonsten müssen sie in die Notaufnahme. Dort werden aber nur "notwendige" Behandlungen gemacht, bedeutet: Eine schwangere Frau ohne KV wird dort keine Untersuchung bekommen. Auch bekommen dort Menschen keine Medikamente für chronische Erkrankungen. Alles nicht notwendig. Da fühlt man sich doch wie im Mittelalter! Die Stadt Leipzig hat nicht nur im Bereich der Menschen ohne Obdach versagt, sondern in vielen anderen Bereichen ihrer sozialen Stadtpolitik. Für Jugendliche gibt es 9 Notaufnahmeplätze! Viel zu wenig für die Größe der Stadt Leipzig.