Unternehmenskritik am Senat: Wirtschaft sieht rot
Die Industrie- und Handelskammer wirft dem Senat vor, die Unternehmen zu vernachlässigen und die Stadt schlecht zu verwalten
Die Chefs der Industrie- und Handelkammer (IHK), Vertretung von über 300.000 Unternehmen in Berlin, warnen den rot-rot-grünen Senat, die wirtschaftliche Entwicklung falsch einzuschätzen und Chancen der Stadt zu verspielen. IHK-Präsidentin Beatrice Kramm verweist auf steigende Preise und weniger Platz für Ansiedlungen: „Damit fallen zwei Standortfaktoren weg, die in den vergangenen Jahren sehr zum Wirtschaftswachstum beigetragen haben.“ Darauf müsse man reagieren. „Die Frage ist: Ist der Senat dieser Aufgabe gewachsen?“, sagte Kramm und gab selbst die Antwort: „Die Berliner Wirtschaft stellt dem Senat ein extrem schlechtes Zeugnis aus.“
Kramm, die das Filmunternehmen Polyphon leitet und seit 2016 IHK-Präsidentin ist, vermisst wie der langjährige Hauptgeschäftsführer Jan Eder wirksame Entscheidungen für die Zukunft der Hauptstadt. „Wir stellen fest, dass die Berliner Politik die Interessen der Unternehmen nicht genug im Blick hat“, sagte Kramm jetzt im Gespräch mit Journalisten – deshalb sei nun ein Weckruf nötig.
Die IHK geht zwar auch für dieses Jahr von einem Wachstum aus, hat ihre Einschätzung vom Jahresbeginn aber leicht nach unten korrigiert, von 2,3 auf 2,2 Prozent. Aus ihrer Sicht scheint dem Senat in Zeiten von Haushaltsüberschüssen nicht bewusst genug, dass Berlin wirtschaftlich oft weiterhin Schlusslicht ist. „Wir machen uns Sorgen, dass Berlins Aufholprozess ins Stocken kommt“, sagte Kramm. Die IHK-Bosse stören sich auch an der Idee eines weiteren gesetzlichen Feiertags, den unter anderem Regierungschef Michael Müller (SPD) thematisierte: Man werde da übermütig, findet Eder.
Fünf Mal „Unbefriedigend“
Die beiden stützen sich auf ein Stimmungsbild in der Hauptversammlung der IHK. In fünf von sechs Feldern – Neubau, Gewerbeflächen, Verkehr, Übergang Schule/Beruf, Verwaltung – urteilte jeweils eine große Mehrheit (zwischen 77 und 87 Prozent) mit „Unbefriedigend“ über die Arbeit des Senats. Nur beim Thema „Investitionen“ fällt der „Unbefriedigend“-Wert mit 44 Prozent geringer aus – aber ein „Gut“ vergaben auch hier nur 20 Prozent.
Jenseits von Kritikpunkten, die eher ideologischer Natur sind – etwa beim Mobilitätsgesetz, das aus Sicht der Kammer zu einseitig ausfällt –, kritisiert die IHK das generelle Management der Stadt. „Wir werden nicht mehr Investitionen bekommen, wenn die Verwaltung nicht besser wird“, sagte Kramm. Sie fordert, so viel wie möglich von den jüngsten Empfehlungen einer Expertengruppe umzusetzen. Der Senat hatte diese Gruppe um den Exvorstand der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, mit einer Verwaltungsuntersuchung betraut. Ihr vor eineinhalb Wochen vorgestellter Bericht soll Thema bei der Klausurtagung des Senats am 30. Juni sein.
Kramm und Eder wollten vor den Journalisten ihre Abrechnung und das IHK-Stimmungsbild nicht als Kritik an einzelnen Senatsmitgliedern verstanden wissen. „Ich habe das Gefühl, dass es unter der rot-schwarzen Regierung nicht anders gewesen wäre“, sagte Eder.
Senatssprecherin Claudia Sünder
Im Roten Rathaus von Regierungschef Müller reagierte man mit Unverständnis. „Es braucht keinen Weckruf, um im Senat eine Sensibilität für die Belange der Unternehmerschaft zu erzeugen“, sagte Senatssprecherin Claudia Sünder der taz. In ihrer bevorstehenden Klausurtagung werde sich die Landesregierung auch mit diesen Themen auseinandersetzen und Lösungen entwickeln. Dass Verwaltungsmodernisierung, Wohnungsbau oder Verkehrsinfrastruktur zu den besonderen Herausforderungen zählen, sei Realität – „eine linke Koalition weiß das und hat den Anspruch, diese Stadt für alle gut zu gestalten“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs