: Unterirdisch hausen
Resterampen, Spielhallen, Gardinenfachgeschäfte, Bikerkneipen und Hardcorekeller: Eine Liebeseserklärung an Moabit, ein Stadtteil, in dem man sich das Leben mit zwitschernden Plastikpalmen und glücklichen Dachbesteigungen versüßen kann
von MONIKA RINCK
Gefällsrecke Turmstraße
Einst, so heißt es in den gängigen Kiez-Apokryphen, habe es sich bei der Turmstraße in Moabit um eine elektrisierende Amüsier- und Einkaufsmeile gehandelt. Doch 1976 kam die U-Bahn und brachte Resterampen und anderes verhängnisvolles Mischgewerbe mit. Eine Ramschmeile sei das jetzt, eine Rutsche ins Niemandsland, eine Gefällstrecke, auf der nichts mehr daran erinnert, dass hier einst eine der ersten Apple-Filialen Berlins zu Hause war. Doch zwischen 50,62 Cent-Klitschen, Spielhallen und Leerstand erglänzt vereinzelt auch stabiles Gewerbe: der alteingesessene Herrenausstatter Dietrich Koch zum Beispiel, der vor kurzem sein vierzigjähriges Geschäftsjubiläum feierte. Ein ganzes Menschenleben lang versah er das Auf und Ab seiner Moabiter Stammkundschaft mit passendem Tuch. Doch Dietrich Koch, der mit Donna Karan nicht nur die Initialen, sondern auch die Beharrlichkeit teilt, bleibt eine der wenigen Ausnahmen. Kaum etwas lässt hier noch an die Legende glauben, es habe Kinos gegeben, konspirative, von Intellektuellen besuchte Tanzcafés und Kurbäder und sogar auch einmal einen Butter Lindner.
Der Turmpalast beherbergt heute zur einen Hälfte eine Aldi-Filiale, zur anderen ein gespenstiges Gardinenfachgeschäft, in dem der Gilb uneingeschränkter Herrscher über die Adokante ist. Daneben verrottet Connys Container, dessen Inhalt längst auf ein anderes Schiff verladen worden ist, die Schaufenster verklebt mit den Ankündigungen von zu Diashows erstarrten Abenteuerreisen: „Mit dem Fahrrad durch die Wüste Gobi. Was Manager von Einhandseglern lernen können.“ Loslassen?
Diese bunten Werbeplakate der Urania sind definitive Sendboten des Verfalls im Vierfarbdruck. Sie zeigen, dass es mit einem Standort unwiderruflich zu Ende gegangen ist.
Halbe Hallen
Wieder stirbt ein Stück Berlin. Die Markthalle Moabit, in der lebende Karpfen ihrem Ende entgegenschwänzeln, wo Brassen, Barben und Barsche auf geborstenen Eisschollen um die Wette frieren und jeder Gemüsehändler mehr über die eigenen Kochpläne zu wissen scheint als man selbst, in diesem umtriebigen und labilen Gefüge des gehobenen Lebensmittelhandels wird renoviert. Das bedeutet Kahlschlag und halbseitige Lähmung. Rechts der Mittelachse liegt die Fläche öd und leer und wird morgen schon ein Supermarkt. Vor die verhüllte Baustelle sind Bänke gerückt, auf denen grimmige Pensionäre Vätern und Vasallen beim Wochendeinkauf zusehen: Ja, der Presskopf ist frisch.
Kleine Perlen
Die Perlebergerstraße gibt es zweimal. Einmal in Moabits Norden, dann noch einmal, so der Comiczeichner und Performer Phil, als detailgetreuer Nachbau in der Hölle. Dabei stellt der Bungalow der Bruno-Lösche-Bücherei mit seinem eckigen Innenhof und den Liegestühlen für besseres Wetter eine stille, aufklärerische Enklave dar. Im Foyer ist die unübersehbare Vielfalt kommunaler Schriften ausgebreitet, vom Familienratgeber der Bundesregierung über sämtliche Kino- und Festivalprogramme bis hin zu Handkopiertem in kleiner Auflage. Eine wahre Fundgrube der Information. Durchstreift man die Regalreihen, bieten die großen Fenster beim Buchstaben P einen überraschenden Ausblick in die verkehrsberuhigte Havelbergerstraße, die auf einmal so idyllisch wirkt wie in frühkindlichen Erinnerungen an Urlaubsstraßen fremder Städte. Allerdings nicht für lange Zeit.
Weiter gen Wedding, gegenüber der künftigen Botschaft Usbekistans, befindet sich der Mobilfunk-Import-Exportladen „Perlekom“, ein Ladenlokal, dem man seine bewegte Vergangenheit nicht mehr ansieht. Vor zehn Jahren aufwändig zur Wannabe – Bikerkneipe „Paranoia“ mit Country- und Western-Programm renoviert und kurz darauf wieder geschlossen, erneuerten die nächsten Besitzer nur einen Teil der Namenstafel: Aus Paranoia wurde Par-is-oia.
Halbwelt siedelte hinfort in Sichtweite der Polizeidirektion 3 und unterhielt die Anlieger bis in die frühen Morgenstunden mit Livemusik aus dem Balkan. Neu installierte Türsteher begleiteten Zufallsgäste, die nur Zigaretten holen gingen, zum Automaten und vor allem, mit großem Nachdruck, wieder hinaus. Heute kann man sich dort den Abschluss eines Handyvertrags durch den gleichzeitigen Kauf einer batteriebetriebenen Moschee oder eines zwitschernden Plastikficus aufpeppen.
Kultur als Fabrik
Die Kulturfabrik in der ehemaligen preußischen Heeresfleischerei in der Lehrter Straße ist eine wilde Torte mit geschlechtsspezifischer und soziokultureller Schichtung. Unterirdisch hausen die Motorradschrauber und Betreiber des Hardcorekellers Slaughterhouse, im Parterre die Jazzfreunde und das Café, das jahrelang vergeblich gegen seinen „Batik- und Backgammon- Flair“ ankämpfte, darüber der Filmrauschpalast und noch eins weiter oben das Theaterdock, alle in friedlicher Koexistenz. Unvergessliche Poetry Cafés fanden hier statt – zu solch elementaren Themen wie Schwerkraft, Prachtschafe im Mondschein und Nautik, in dessen Verlauf das Publikum dazu gezwungen wurde, mehrere tausend Mal das Wort „Focksegel“ zu skandieren. Eine vorangegangene Prüfung hatte ergeben, dass sich mit keinem anderen Wort ein derart erfrischender Effekt erzielen lässt.
Ebenso großartig auch das Surf-Café, in dem Kevin McAleer als Doctor Surf durch den Abend und die Brandung führte. Die Gischt zwischen den Zeilen schlug zusammen und die Prosa wogte. Es gab Sommerabende von graziöser Gelassenheit im OpenAir Kino. Es gab im Morgengrauen glückliche Dachbesteigungen, wo man auf den Sonnenaufgang wartete und wartete, bis einem gegen neun Uhr morgens aufging, dass die Sonne schon aufgegangen sein musste, da es hell war, wenn auch nicht sonnig wegen einer Wolkendecke. Das waren Transferleistungen! Und voller Stolz stieg man hinab. Nur das Catering, das Catering war die Hölle, immer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen